Schmerzfreiheit – ein Menschenrecht

Schmerztherapeuten und Patientenverbände fordern moderne Therapie für alle Schmerzkranken. Sie kritisieren die Krankenkassen. Doch die größte Bremer Krankenkasse AOK sieht keinen Handlungsbedarf

Bremen taz ■ Schmerzen sind gut. Denn sie sind Warnhinweis für Fehlverhalten oder Krankheiten. Wenn der Schmerz jedoch anhält und chronisch wird, sind Patienten oft allein gelassen – ohne angemessene Therapie. Zwischen fünf und acht Millionen Menschen, so schätzt der Bremer Schmerz-Experte Michael Strumpf am Rotes-Kreuz-Krankenhaus, leiden täglich unter starken Schmerzen. „Dabei sind viele Schmerzen behandelbar, und Patienten haben das Recht auf ausreichende Schmerztherapie. Die Kranken können das Recht auf Schmerzfreiheit einfordern.“

Den Grund für diesen Missstand glauben Bremer Schmerztherapeuten zu kennen: Die Diagnose und Behandlung chronischer Schmerzen ist nicht Bestandteil ärztlicher Ausbildung. Haus- oder Fachärzte müssen sich in Privatinitiative durch spezielle Kurse zum Schmerztherapeuten schulen lassen.

Bundesweit existieren schätzungsweise nur 500 schmerztherapeutische Einrichtungen. Für flächendeckende Versorgung müsste es nach der Berechnung des Präsidenten des Algesiologen-Verbandes, Dietrich Jungck, 2.000 bis 3.000 dieser Praxen oder Ambulanzen geben.

Im Vergleich zum Bundesgebiet gilt die Versorgung von Schmerzpatienten in Bremen als nahezu ausreichend. Dennoch müssen sie Wartezeiten bei niedergelassenen Therapeuten und Schmerzambulanzen in Krankenhäusern von vier bis 12 Wochen in Kauf nehmen. So die Einschätzung der hiesigen Fachleute.

Drastisch verschlechtern könnte sich die Lage jedoch mit Beginn des nächsten Jahres. Das jedenfalls fürchten Patientenverbände und Schmerztherapeuten, wenn Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen dem jetzigen Entwurf für das neue Leistungsverzeichnis (auch Einheitlicher Bewertungsmaßstab EBM 2000 plus) zustimmen. Er regelt, welche ärztlichen Leistungen künftig von den Krankenkassen übernommen werden. „Bislang sieht es so aus, als würden nur wenige Anästhesieleistungen wie Nervenblockaden im Leistungskatalog verbleiben“, warnt die Deutsche Schmerzliga. „Eine moderne Schmerztherapie basiert aber nicht nur auf einer einzigen Maßnahme, sondern integriert verschiedene Strategien, beispielsweise Medikamente, Bewegungstherapien und psychologische Behandlungen zur Schmerzbewältigung“, warnt die Präsidentin der Deutschen Schmerzliga, Marianne Koch. Unterdessen fürchtet der Bremer Schmerz-Experte Strumpf, dass Krankenkassen und KV sich nicht einig werden. „Hier geht es ums Geld“, sagen Ärzte. Der Sparwille der Krankenkassen verhindere, dass Schmerzpatienten eine Therapie auf dem Stand der Wissenschaft bekommen.

Doch auch Kassenpatient ist nicht gleich Kassenpatient. Seit 1994 existiert eine Sondervereinbarung aller Ersatzkassen mit den Schmerztherapeuten. Geregelt werden darin deren Qualifikation, die Diagnostik, therapeutische Maßnahmen und interdisziplinäres Arbeiten. Danach müssen auch regelmäßige Schmerzkonferenzen durchgeführt werden. Ein leibhaftiger Patient wird hierbei einem Kreis von Kollegen vorgestellt, gemeinsam wird sein Fall besprochen. Auch Ärzte, die nicht die Qualifikation zum Schmerztherapeuten haben, können sich mit „schwierigen Fällen“ zu den Konferenzen anmelden.

Diese Sondervereinbarung hat den Versicherten der Ersatzkassen die Kostenübernahme von schmerztherapeutischer Behandlung gesichert. Im Gegenzug soll die jährliche Prüfung der Dokumentation den Kassen Transparenz bieten. Die Patienten profitierten von der nachgewiesenen Qualität, heißt es.

Für die Mitglieder des größten gesetzlichen Krankenversicherers AOK in Bremen gibt es keine solche Sondervereinbarung. Ärzte kritisieren das. „Ich behandle AOK Patienten unentgeltlich – bis auf die wenigen Anästhesieleistungen, die abgerechnet werden können“, sagt der niedergelassene Anästhesist und Schmerztherapeut Hubertus Kayser. Er gehe davon aus, dass andere Bremer Kollegen das genauso machten. Ärzte wie Kayser verzichten dann auf die Abrechnung der 90-minütigen Erst-Anamnese oder Kostenerstattung für zeitintensive Patientengespräche.

Die AOK in Bremen sieht – anders als beispielsweise die AOK in Hamburg und Baden-Württemberg – keinen Anlass zum Handeln. „Wenn man merkt, dass die Schmerztherapie auch so klappt, besteht kein Handlungsbedarf“, sagt Kassen-Sprecher Jörn Hons. Zudem fordere die Kassenärztliche Vereinigung eine solche Vereinbarung nicht ausdrücklich.

Sabine Henßen