Orientierung am Patienten

An der Humboldt-Universität feiert der Reformstudiengang Medizin sein fünfjähriges Bestehen. Hier lernen Studenten „problemorientiert“ – an Simulationspatienten wie an konkreten Krankheitsfällen

VON JEANNETTE GODDAR

Die Patientin, die keine ist, macht einen beeindruckenden Job. Mit zitternder Stimme erzählt die Dame, die hier Frau Kautz heißt, von ihren Beschwerden. Das Atmen falle ihr schwer, die Brust schmerze, sie könne nicht schlafen. „Herr Doktor“, fleht sie, „Sie müssen mir helfen. Gibt es keine Tabletten?“ „Ich würde Ihnen lieber ein paar Fragen stellen“, sagt der Arzt, der ebenfalls – noch – keiner ist. Er bittet, den Schmerz zu beschreiben. Wird es schlimmer, wenn sie allein ist? Nach einer halben Stunde entlässt er sie mit der Bitte, darüber nachzudenken, ob sie vorübergehend in eine Klinik möchte. Sie verspricht wiederzukommen. Das wird sie nicht tun. Frau Kautz ist gar nicht krank, sondern eine so genannte Simulationspatientin. Ihr Gegenüber studiert Medizin im fünften Semester.

An der Berliner Humboldt-Universität wird in diesen Tagen einer der ersten reformierten Studiengänge für Medizin fünf Jahre alt. Im Oktober 1999 nahmen die ersten 63 angehenden Ärzte ein Studium auf, in dem sie von Anfang an mit gespielten, aber auch mit echten Patienten zu tun haben. Der Einsatz von Simulationspatienten gehört für sie ebenso zum Alltag wie ein wöchentlicher Einsatz in Praxen oder Krankenhäusern.

Wo die Studierenden weder auf echte noch auf gespielte Patienten treffen, arbeiten sie nach dem Prinzip des „problemorientierten Lernens“ (POL). POL übersetzt das Wissen aus 44 medizinischen Teilgebieten in konkrete Krankheitsfälle. Statt sich wochenlang nur mit „Anatomie“ oder „Neurologie“ zu beschäftigen, hangeln sich die Studierenden in Siebenergruppen und im Wochenrhythmus durch fiktive Krankengeschichten wie folgende: „Herr P. wacht in der Nacht auf und spürt starke Schmerzen und ein Engegefühl in der Brust. Er führt die Beschwerden auf die stark blähende Mahlzeit zurück, die er am Abend gegessen hatte. Die Beschwerden werden schlimmer. Herr P. begibt sich auf Anraten seiner Frau in ärztliche Behandlung.“

Mit diesen wenigen Zeilen ausgestattet, macht sich die von einem Facharzt angeleitete Gruppe an die Arbeit. Im Brainstorming werden Fragen und Probleme definiert, anschließend Ideen und Lösungsvorschläge gesammelt und die anstehenden Lerninhalte definiert. Anschließend wälzen die Studierenden Bücher und besuchen einschlägige Seminare, um zwischendurch immer wieder ihr Wissen zusammenzutragen.

So lernen sie am Beispiel des Herrn P. etwas über eine ganze Reihe medizinischer Fragen: über Herzinfarkt, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krankheit verdrängendes Verhalten, Stoffwechsel, die Wirkung blähender Speisen, Physiologie und Anatomie des Herzens, Diagnostik. In einer Art „Lernspirale“ werden die Themen im Studium immer wieder aufgegriffen und gründlicher behandelt.

Reformierte Medizinstudiengänge, die sich nach US-amerikanischen und kanadischen Vorbildern dem „nachhaltigen Lernen“ verschreiben, gibt es bundesweit inzwischen einige. Nach Witten/Herdecke war der Berliner einer der ersten Studiengänge – und der einzige, der von Studierenden erkämpft wurde. Im Wintersemester 1988/1989 streikten die Mediziner nicht nur für bessere Studienbedingungen, sondern auch für mehr praktisches Lernen. Eine Vollversammlung sprach sich dafür aus, in einem „Berliner Modell“ ihre Utopie vom anwendungsorientierten Medizinstudium umzusetzen.

Im damaligen Dekan Dieter Scheffner fand man schnell einen Partner, der voll und ganz hinter dem Unterfangen stand. „Mich hat die Idee sofort überzeugt. Und wie Recht sie hatten, sehen wir daran, wie erfolgreich die ersten fünf Jahre waren“, bilanziert Scheffner heute. Nach seiner Ansicht ist das oberste Ziel des Studiengangs erreicht: „Wir bilden Menschen, für die später die Orientierung am Patienten Maxime sein muss, so aus, dass sie sich nicht nur mit Krankheitsbildern, sondern auch mit Menschen auskennen.“

Bis dieser Versuch gestartet werden konnte, vergingen allerdings zehn Jahre: Erst als eine Modellklausel in der Approbationsordnung die Aufhebung der strikten Trennung von Vorklinik und Klinik ermöglichte, konnte es losgehen. In dem Reformstudiengang fällt das Physikum weg; stattdessen wird am Ende jeden Semesters geprüft. Der Multiple-Choice-Anteil wurde begrenzt, dafür gibt es verstärkt mündliche Prüfungen sowie Beurteilungen durch die Simulationspatienten. Das zweite und dritte Staatsexamen ist allerdings das gleiche wie in jedem anderen Medizinstudium auch.

Doch auch das Regelstudium wandelt sich – und heute richten sich die Augen von Professoren aus der ganzen Republik auf den Berliner Studiengang. Die neue Approbationsordnung verpflichtet alle medizinischen Fakultäten, das Studium anwendbarer zu gestalten. Vor allem sollen der klinische und theoretische Unterricht stärker verzahnt werden. POL könnte Schule machen.