Der König einer kolossalen Clique

Viele Jahre lang hat Alexander Czerwinski als Pionier des oft belächelten Sumo-Sports in Deutschland gewirkt, bei der Weltmeisterschaft in Riesa hat der 35-Jährige an diesem Wochenende einen seiner letzten großen Auftritte

ROSTOCK taz ■ Am Anfang waren es die gleichen Fragen, immer wieder. Wie groß? Wie schwer? Wie viele Kalorien am Tag? Alexander Czerwinski antwortete gern: 1,84 Meter, 215 Kilo, 8.000 Kalorien. Diese Eckdaten genügten, um ein Bild von ihm zu zeichnen. Czerwinski war der König einer kolossalen Clique, der beste deutsche Sumo-Ringer. Er war ein begehrter Exot, der den Sprung aus der Anonymität geschafft hatte, er wurde von Talkshow zu Talkshow gereicht, wuchtete den Blödelbarden Stefan Raab nieder, spielte Theater in Berlin und zog fürs „Guinnessbuch der Rekorde“ einen tonnenschweren Zug. Manchmal fühlte er sich reduziert auf den liebenswerten Dicken, der den deutschen Aufklärer spielen musste für eine komische Kampfkunst aus dem Fernen Osten. Man sah viel von ihm, viel nackte Körpermasse, zu hören war nur das Nötigste. Zum Beispiel, wie viele Wiener Würstchen in seinen Magen passen oder mit welcher Bratpfannengröße es seine Hände aufnehmen können. „Jeder Sport im Wachstum braucht eine Figur“, sagt Czerwinski, „ich habe gern diese Rolle ausgefüllt.“

An diesem Wochenende finden in Riesa die Sumo-Weltmeisterschaften statt. In den Hotels wurden die zarten Holzbeine der einsturzgefährdeten Betten demontiert, Hilfsköche eingestellt und Speisekammern bis unters Dach gefüllt. In Riesa treten 200 Schwergewichte aus 35 Nationen an, sie werden von 5.000 Zuschauern bejubelt. Die japanischste aller Sportarten hat in Deutschland eine kleine, aber feine Nebenbühne gefunden, auch dank Czerwinski. „Wir haben Sumo emanzipiert“, sagt er.

Noch vor zehn Jahren hatte man Sumotori hierzulande für koreanische Geländewagen oder todbringende Wetterkatastrophen gehalten. Ein paar Verwegene widmeten sich der 1.500 Jahre alten Kampfkunst. Die Europäer konnten den Kämpfen im Dohyo, dem Schauplatz der Sumotori, nichts abgewinnen. Oft dauert das Duell nur Sekunden, das Vorspiel dafür umso länger. Minutenlang stampfen sie auf den Boden, zwischendurch spülen sie ihre Münder aus und verstreuen Salz, um böse Geister zu vertreiben. Vor vier Jahren dann glückte der Quantensprung. Czerwinski und andere deutsche Berufsdicke wurden in São Paulo Mannschaftsweltmeister, sie besiegten die Japaner, bis dahin übermächtige Branchenführer. Inzwischen wickeln sich in Deutschland über tausend Sumotori regelmäßig den Mawashi um den Unterleib, das einzige erlaubte Kleidungsstück, vergleichbar mit einer Windel, nur 15 Meter länger. Niemand spricht mehr von Kirmes-Catchen. „Das Feld ist bereitet“, meint Alexander Czerwinski, 35 Jahre alt, angelangt im Herbst seiner Karriere, „die Ernte müssen nun andere einfahren.“

Er sagt das nicht aus Verbitterung. Viele Europäer haben den Sprung ins Mutterland gewagt, sie sind Profis in Japan geworden und verdienen nun üppige Gagen. Einige von ihnen hätte Czerwinski mit dem kleinen Finger umgeschubst, das sagt er zumindest, aber für ihn kommt der Boom der Beleibten zu spät. Czerwinski war oft in Asien. Er kennt das Gefühl, wenn hunderte Teenager seinetwegen kreischen und Fremde in der U-Bahn seinen Bauch tätscheln, er hätte es dort zu Ruhm und Reichtum bringen können. „So spielt eben das Leben“, sagt er lapidar. Von Wehmut keine Spur.

Es wird Zeit, dass Alexander Czerwinski das Tempo drosselt. Mehrfach wurde er an den Kniegelenken operiert, Folgen des Raubbaus, den er vor 24 Jahren begann, als er Judo trieb, um dann später zum Sumo zu wechseln. Er hat sich den Bedingungen des Sports freiwillig unterworfen, brach das Abitur ab, stellte die Suche nach einer Partnerin zurück. Der Erfolg, die vielen Titel und das wachsende Interesse der Medien entschädigten dafür. „Die Prioritäten verschieben sich mit der Zeit“, sagt Czerwinski. Den Kampf gegen das Klischee hat er gewonnen. Er wird nicht mehr als Klamauk-Koloss wahrgenommen, er hat sich fortgebildet, viele Bücher gelesen. Es gibt eine Welt abseits des Dohyos, das hat er begriffen.

Und er hat abgenommen, wiegt nur noch 140 Kilo. Wenn er über seinen Sport spricht, klingt er nicht mehr wie ein erzwungener Spaßvogel, sondern wie ein Trainingswissenschaftler. Die WM ist einer seiner letzten großen Auftritte, er wird mit dem Team starten, im Einzel haben sich andere Kollegen hochgedient und seinen Platz eingenommen. Czerwinski hat in seinem Heimatort Rostock die Frau seines Lebens gefunden, will demnächst eine Familie gründen. Ganz wird er vom Sumo nicht loskommen, er hat Angebote verschiedener Medien vorliegen, als Co-Kommentator und Fernsehexperte. Alexander Czerwinski bleibt seiner Roller treu. Einmal Aufklärer, immer Aufklärer. RONNY BLASCHKE