Die perfekte Lüge für den perfekten Sex

Die Agentur „Perfektes Alibi“ sorgt dafür, dass ein Seitensprung ein Geheimnis bleibt. Dafür strickt sie Legenden, erfindet Lügen und engagiert Lügner. Denn der Mensch verdient Privatsphäre. Vor allem, wenn er in einer Partnerschaft lebt. Ist Lügen eine Dienstleistung wie Autowaschen?

Die Lüge steckt in jedem Büstenhalter. Aber sexy sieht sie nicht aus

von NADJA KLINGER

Wenn einem eine Lüge über den Weg läuft, muss es nicht unbedingt krachen. Im Gegenteil. Sie zieht meist unbemerkt vorüber. Sie streift einen wie ein lauer Wind. Die Lüge wird allgemein überbewertet. Dabei ist sie weder erschreckend groß noch wirft sie finstere Schatten. Sie ist ein Gebrauchsgegenstand. Sie ist das Polster, das jeder benötigt, um sich im Leben nicht fortwährend blaue Flecken zu holen.

Die Lüge ist unspektakulär.

Die Lüge ist eine Lüge. Sie steckt in nahezu jedem Büstenhalter, aber sexy sieht sie nicht aus. Der Mensch lügt hunderte Male am Tag.

Jens Schlingensief weiß das. Er wusste es schon immer. Aber früher war es nur so ein Gefühl. Schlingensief log, was das Zeug hielt, und spürte nichts Besonderes dabei. Jetzt reicht das Gefühl allein nicht mehr aus, denn Schlingensief muss sich immer wieder erklären. Er muss Genaueres über die Lüge wissen, muss Zahlen kennen und Argumente. So sitzt er zum Beispiel beim Bayerischen Rundfunk in einer Diskussionsrunde mit einem Theologen und einem Wissenschaftler.

Man greift ihn an. Man redet über Moral. Die Sache läuft gegen ihn, bis Schlingensief langsam in Fahrt kommt. Wie eine alte Lok zieht er an. Mit den vielen Sch-Lauten stößt er Dampf aus, und umso schneller er wird, desto häufiger lässt er die Endungen seiner Worte einfach weg. Das Ganze wird live übertragen. Schlingensief rumpelt gerade erst auf Höchstgeschwindigkeit, da haben die Radiohörer schon den Computer angestellt. Sie haben sich gegen die Moral entschieden und für ihn. Sie suchen ihn im Internet. Nach jedem Fernseh- oder Rundfunkauftritt könnte Jens Schlingensief eigentlich gleich ins Büro nach Schömberg bei Pforzheim fahren und die vielen neuen Kundenanfragen bearbeiten.

Nach jedem kleinen Zeitungsartikel boomt sein Geschäft. Er verkauft Alibis. Perfekte Lügen. Das geht nach dem Hundefutterprinzip. Wer Schnuffi einmal so ein Knusperstäbchen auf die Zunge legt, der weiß genau: Für den dummen Hund ist das fortan die Welt. Im Internet erklärt Jens Schlingensief seinen potenziellen Kunden, dass sich über ihr Leben ein dichtes Netz von modernen Kommunikationsmitteln spannt. Dass es ihnen kaum noch möglich ist, unüberwacht, richtig allein, privat zu sein. Sein Motto ist: „Machen Sie, was Sie wollen!“ Erscheinen Sie nicht zu Terminen, auf die Sie keine Lust haben! Leisten Sie sich einen Seitensprung! Stottern Sie nicht zeitraubend herum! Denn Zeit ist Freiheit.

Für 8,50 Euro schickt einem Schlingensief eine SMS, die man seinem misstrauischen Partner als Beweis vorhalten kann. Elf Euro mehr kostet es, wenn die Agentur eine Ehefrau anruft, um den Konferenztermin ihres Mannes nächstes Wochenende in Düsseldorf zu bestätigen. Schriftliche Einladungen sind noch teurer. Der Preis steigt weiter, wenn die Ehefrau sich dann zum Konferenzort durchtelefoniert. Jens Schlingensief geht ans Telefon und verspricht, dass der Mann gleich zurückruft. Nach fünf Minuten meldet der sich tatsächlich, allerdings nicht aus Düsseldorf, sondern, was die Frau nicht erfährt, von den Kanaren. Flüge und Hotels sind auch über die Agentur gebucht.

Werden Eheleute misstrauisch, schickt Schlingensief jemanden vorbei, der die Redlichkeit des Partners bestätigt. „Schönen Urlaub! Wir kümmern uns um die Details!“, heißt es auf der Internetseite seiner Agentur. „Ich mache auch nichts anderes, als wenn ich den Leuten ihre Autos waschen würde“, beschließt der Chef seine Ausführungen im Radio. Der Wissenschaftler im Studio sagt nichts mehr dagegen. Es ist spät. Es geht um die Freiheit. Es lebe unser breites Dienstleistungsangebot!

Die Anfänge des Dienstleistungsunternehmens gehen auf damals zurück, als ein Freund von Jens Schlingensief einen Seitensprung machte. Die jungen Männer hatten die Schule abgeschlossen und Schlingensief arbeitete als Automechaniker. Abends bastelte er an Internet-Seiten. Er starrte auf den Bildschirm und dachte an jenen Freund, der wohl gerade an einer Lüge bastelte, um seine Frau betrügen zu können.

Schlingensief war 22. Das Leben hatte ihn noch gar nicht richtig gefangen genommen, da beklagte er schon mangelnde Bewegungsfreiheit. Seine Logik war ungefähr diese: Mein Freund hat sich den Seitensprung geleistet so wie Herr X sich den teuren Mantel, obwohl er schon einen Mantel hat. Mein Freund kann aber, wenn seine Frau ihn mit der anderen überrascht, nicht dasselbe sagen, was Herr X der Frau X erzählt, wenn sie seinem neuen Mantel im Flur begegnet: Ach, Schatzi, den hab ich doch schon lange. Die Logik hatte kurze Beine. Trotzdem kam Jens Schlingensief damit ziemlich weit. Die Agentur lief 1999 verhalten an. Bis die ersten Pressemeldungen kamen.

Es gibt Zeiten, da kann sich die Internetseite www.perfektes-alibi.de vor Zugriffen kaum retten. In diesen Zeiten kommt Jens Schlingensief schon mal ins Büro und knallt seiner Organisationsleiterin Frauke Michel die Eingangstür in die Hacken, weil die gerade im Schwenkbereich herumsteht.

„Oh, das tut mir leid“, sagt Schlingensief. Es ist eine Lüge. Kollegin Michel weiß das. Deswegen ist sie ja hier. Der Chef geht weiter durch den Raum. Er versichert Sandra Häfner, die für die Auftragsabwicklung verantwortlich ist, dass sie heute nicht so lange arbeiten wird wie gestern. Frau Häfner bleibt cool, so wie sie das als professionelle Lügnerin gelernt hat. Schlingensief steht am Waschbecken, macht sich frisch und schaut in den Spiegel. Er betrachtet seine kurze Ponyfrisur, die langen Koteletten. Er findet, dass er gut aussieht. Seine Agentur hat in vier Jahren beim Lügen noch nie etwas falsch gemacht. Nichts ist aufgeflogen. Und der Spiegel schweigt.

Jens Schlingensief ist jetzt 26. Er weiß immer noch nicht wirklich, wie das Leben so spielt. Er kennt nur den Spruch. Er kennt noch andere Sprüche. „Meine Kunden sind erwachsen genug“, sagt er. Sie hätten sich von allein entschieden zu lügen. Er sagt: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Wie das Leben so spielt, hat es den Lügen ihren Platz gegeben. Lügen ermöglichen, jemanden hinters Licht zu führen. Sie helfen einem, mehrere Personen gleichzeitig zu sein. Sie lassen die Menschen nach etwas greifen, was ihnen nicht zusteht. So lange, bis das Leben sagt: Bis hierhin und nicht weiter. Denn es ist ungerecht, dieses Leben, aber es ist ungerecht zu allen. Mit 26 will man davon nichts wissen. Das ist das Problem. Erst später, viel später, wird Jens Schlingensief auch die Sprüche kennen, die dem Schicksal die notwendige Ehrfurcht entgegenbringen. Bis dahin werden seine Angebote in seinem Schaufenster liegen. Perfekte Alibis. Lügen, die eigentlich handgestrickt sein sollten, damit der Belogene noch eine Chance hat, einen Fehler zu finden. Schlingensiefs Lügen streifen einen nicht wie ein lauwarmer Wind, sondern sind drapiert wie pralle Brüste. Bis Jens Schlingensief alt genug ist, wird er Leute verführen. Sie werden merken: Dies und das hätten sie gern. Sie werden anrufen und stottern. Es ist ihnen peinlich, sich als Lügner zu bekennen. Sie versuchen, so billig wie möglich einzukaufen, denn sie haben kein Geld. Sie haben auch keinen Mut.

„O Gott, was machen wir nun?“, fragen sie, wenn’s brenzlig wird. Gott ist Schlingensief.

„Ich halte Existenzen in den Händen“, sagt er. In Wahrheit hält er die Fernbedienung. Er steuert eine Ehe mit überhöhter Geschwindigkeit in die Kurve. „Darüber haben wir uns in der Agentur auch schon Gedanken gemacht“, räumt Jens Schlingensief hin und wieder ein. Aber allzu viel Zeit kann er nicht vergrübeln. Er sitzt am Hebel. Und bringt die Ehe heil durch.

Letztlich hat ein Geschäft seine eigene Moral. Manchmal kann man die Moral sogar sehen. Der Weg zur Alibi-Agentur in Schömberg beispielsweise führt durch eine Kneipentür. Weiter durch den Schankraum, wo es nach Zigaretten und verschüttetem Bier riecht. Durch den Hinterausgang in Schlingensiefs Fabriketage hinauf. „Diskretion ist erste Bedingung“, sagt der Chef verantwortungsvoll. Wer einmal einen intakten Schleichweg hat, der kann sich ruhig auch noch mehr Verantwortung aufladen. Die Schömberger Agentur hat sich mit einer Seitensprung-Agentur zusammengetan. Dort vermittelt man die sexuellen Abenteuer, für die Schlingensief dann das Alibi liefert.

Zu aller Letzt hat ein Geschäft auch Grenzen. Jens Schlingensief erfindet Hotels, fälscht Rechnungen und Briefe, engagiert Lügner und hält Kontakte zu Helfern auf der ganzen Welt. Für Straftaten jeglicher Art kann man ihn nicht engagieren. Jedoch erschließt sich das den Kunden, die konspirativ über die Hintertreppe kommen, nicht so leicht. Sie wollen schon mal, dass ihre Kontoauszüge geändert werden. Oder dass man ihnen hilft, eine bestimmte Wohnung zu bekommen. Schlingensief ist das unangenehm. Er lehnt energisch ab.

Einmal hat eine Kundin ihren Mann wie wild betrogen. Schlingensief hatte viel für sie zu tun. Jedoch ist ihm fast schwindelig geworden, wenn er daran dachte, was er tat. Es kam dicke, als der Ehemann der Kundin misstrauisch wurde. Schlingensief und seine Leute haben die Frau rausgerissen. Dann kam es noch dicker. Besagter Ehemann rief an, ohne natürlich zu wissen, dass es das Telefon einer Lügen-Agentur ist. Er hat sich hundertmal entschuldigt für sein blödes Misstrauen. In diesem Augenblick war Jens Schlingensief wirklich an der Grenze. Er war unbemerkt älter geworden. Die Begeisterung für ein perfektes Geschäft wich für einen Moment der Ehrfurcht vor dem Leben. „Ich weiß nicht, warum, aber ich hab’s im Privaten sehr wichtig mit der Ehrlichkeit“, sagt er. Ganz realistisch: „Ich will so wenig Unehrlichkeit wie möglich.“