montags: Forum! (8)
: Hartz IV und der Zorn des Volkes: Eine Außenansicht

Montags streitet der Norden über die Sozialreform: Gruppen unterschiedlicher Couleurs gehen gegen Hartz IV auf die Straße – heute voraussichtlich noch in Bremerhaven, Delmenhorst, Hamburg, Hannover, Leer, Lübeck, Minden, Münster, Oldenburg. Aber eine Demo ist kein guter Platz fürs Argumentieren. In der taz nord-Serie „Montags: Forum!“ beziehen deshalb Experten und Engagierte Stellung zum Um- oder Abbruch des Sozialstaats. Heute, letzte Folge: Sabina Stiller, Zentrum für Deutschlandstudien an der Radboud Universität Nimwegen (Niederlande)

Die Debatte zu und die Proteste gegen Hartz IV sind in den Niederlanden nicht unbeachtet geblieben: Seit Ende August wird in den Medien über Anlass und Fortgang der Demonstrationen berichtet. Dies ist zunächst nicht verwunderlich, da man politischen Ereignissen im großen Nachbarland meist gut folgt.

Mitte September jedoch sahen sich die Niederlande selbst mit Demonstrationen, organisiert durch einen Verbund der wichtigsten Gewerkschaften, konfrontiert, und man konnte spontan Vergleiche zwischen den Nachbarländern anstellen. Die kürzlich von Finanzminister Gerrit Zalm (VVD, Liberalkonservative) vorgestellten Regierungspläne zu weiteren Einsparungen im Sozialbudget wurden vielerorts durch kurze Arbeitsniederlegungen und spontane Proteste „begrüßt“. Der Protest erreichte am 2. Oktober einen vorläufigen Höhepunkt, als sich, angeführt durch die sich kämpferisch gebenden Gewerkschaften und Oppositionsparteien in Amsterdam über 200.000 Menschen versammelten. Den Organisatoren gelang es, ein deutliches Signal zu setzen gegen die geplanten Einschnitte in Vorruhestandsregelungen, Frühverrentung und Arbeitsunfähigkeitsrenten.

Es ist deutlich: Das Klima in den traditionell durch das so genannte Poldermodell (die institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den Sozialpartnern) geprägten Niederlanden hat sich seit diesem Frühjahr abgekühlt. Damals zeichnete sich der Bruch zwischen Gewerkschaften und der Regierung um eine Erhöhung des Rentenalters und einen Abbau des Frühruhestands ab. Gibt es Parallelen zwischen dem Konflikt um Hartz IV und dem gegenwärtigen Konflikt in den Niederlanden? Auf den ersten Blick vielleicht schon. Tatsächlich aber geht es um zwei unterschiedliche Prozesse und Reformvorhaben.

Erstens: Während es sich bei Hartz IV um eine Reform handelt, die neue Anreize für Arbeitslose schafft, schneller (auch schlechter bezahlte) neue Arbeit anzunehmen, fürchten in den Niederlanden vor allem ältere und teilweise arbeitsunfähige Arbeitnehmer, Leistungen einzubüßen oder ganz zu verlieren. Die Einschnitte in die Arbeitslosenversicherung, denen Deutschland nun entgegensieht, sind in den Niederlanden schon in den 80er- und 90er-Jahren vorgenommen worden: Anreize, eine neue Arbeit anzunehmen, sind dort ungleich größer.

Zweitens: Die Proteste in Deutschland kommen zeitlich wahrscheinlich zu spät, das Gesetzgebungsverfahren wurde bereits abgeschlossen, und dies mit der Zustimmung der christdemokratischen Opposition: Das Gesetz wird Anfang 2005 in Kraft treten.

Die Pläne der niederländischen Regierung dagegen sind Vorhaben, die noch im Parlament verabschiedet werden müssen, und selbst die an der Regierung beteiligten liberalen Parteien VVD und D66 sowie die Christdemokraten von Premier Jan Peter Balkenende fordern Korrekturen: Die Proteste finden also im Vorfeld der eigentlichen Gesetzgebung statt und können durchaus noch Einfluss nehmen auf das Resultat.

Drittens scheint der Hintergrund der Proteste in Deutschland unauflöslich verflochten mit dem in den Medien oft als mangelhaft kritisierten Aufbau Ost. Dadurch ist ein Teil der Proteste nicht allein als Protest gegen Hartz IV zu deuten, sondern hat tiefere Gründe, die in der ungleichen Entwicklung zwischen Ost und West angesiedelt sind. Eine derartige Komponente fehlt natürlich bei den Protesten in den Niederlanden, wenngleich befürchtet wird, dass durch die zu erwartenden Einschnitte die schwächeren Schichten der Gesellschaft besonders belastet werden und damit die Armut in den unteren Einkommensschichten, die am meisten unter Rezession und Kaufkraftverlust der letzten Jahre leiden, noch zunehmen wird.

Fazit: Beide Proteste teilen zumindest ein Ziel: dem fortschreitenden Ab- und Umbau der sozialen Sicherungssysteme, der in ganz Europa im Gange ist, Einhalt zu gebieten. Diese Proteste sind für die Regierenden keine Überraschung. Sowohl die empirische Sozialsstaatsforschung als auch die politische Wirklichkeit lehren, dass Widerstände absehbar sind, und zwar sowohl aus den zu reformierenden Systemen selbst, als auch aufgrund des Zorns der WählerInnen gegen Einschnitte. Die politischen Verantwortlichen sollten die Proteste vor allem als Chance und Signal begreifen: Die Kommunikation unbequemer Wahrheiten und Notwendigkeiten lässt in beiden Ländern noch sehr zu wünschen übrig.