Schwedischer Krawall vor Gericht

Heute beginnt vor dem Schöffengericht Berlin der Prozess gegen eine 28-jährige Berlinerin wegen der Proteste in Schweden vor zweieinhalb Jahren. Polizei durchsuchte gestern Wohnung eines weiteren mutmaßlichen Globalisierungskritikers

von HEIKE KLEFFNER

Zweieinhalb Jahre nach den Demonstrationen gegen den EU-Gipfel im schwedischen Göteborg werden die dreitägigen Proteste ab heute das Landgericht Berlin beschäftigen. In schwedisch-deutschen Joint-Venture- Ermittlungen hatte die Göteborger Staatsanwaltschaft im Sommer vergangenen Jahres nach beendeter Auswertung von hunderten Stunden Videomaterial und Personenkontrolldaten ihre Ergebnisse an die deutschen Strafverfolger weitergeleitet. Mindestens neun laufende Ermittlungsverfahren in sechs Bundesländern und zwei Verurteilungen sind bekannt. Zuletzt durchsuchten gestern Berliner Polizeibeamte die Wohnung eines jungen Berliners, der ebenfalls verdächtigt wird, in Göteborg gewesen zu sein.

Unter den Betroffenen ist auch die Berliner Studentin Sabine M. (Name geändert), die im Sommer 2001 mit tausenden von Globalisierungskritikern und Autonomen in Göteborg gegen die „Festung Europa“ protestieren wollte. Ab heute muss sie sich vor dem Schöffengericht Berlin noch einmal an den 14. Juni 2001 erinnern. Da wurde gleich zu Beginn des EU-Gipfels ein Göteborger Gymnasium, das als legaler Treffpunkt und Schlafraum für die Demonstranten angemietet worden war, von der Polizei unter Gewaltanwendung geräumt. Daraufhin gab es die ersten massiven Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten.

Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft soll auch die 28-Jährige Berlinerin an einer solchen Aktion gegen die Polizei beteiligt gewesen sein. Die Anklage wirft Sabine M. schweren Landfriedensbruch und versuchte Sachbeschädigung vor. Die Staatsanwaltschaft behauptet, die angehende Sozialwissenschaftlerin habe sich in einer gewalttätigen Gruppe von rund einhundert Personen bewegt, die vier am Straßenrand abgestellte menschenleere Polizeiautos durch Fußtritte und Steinwürfe beschädigt habe. Zudem meinen die Ankläger, Sabine M. habe eine Holzlatte „wie ein Speer“ gegen die Heckscheibe eines Polizeiautos geschleudert – die jedoch ganz blieb.

Um diese Vorwürfe zu beweisen, stützt sich die Berliner Staatsanwaltschaft vollständig auf Material, das sie von ihren Göteborger Kollegen erhalten hat. So gehören zum Standardset der schwedischen Strafverfolger in Sachen Göteborg reißerisch zusammengeschnittene Videobänder: Sie zeigen zumeist Krawallszenen, die mit dem eigentlichen Tatvorwurf wenig zu tun haben. Im Fall von Sabine M. existieren zudem noch Fotos. Darauf ist ein Polizeiauto zu sehen, an dem jedoch nicht die in der Anklageschrift genannte Heckscheibe Kratzer aufweist, sondern die Frontscheibe.

Vor dem Schöffengericht Berlin sollen in dem für zwei Verhandlungstage angesetzten Prozess auch eigens aus Schweden eingeflogene Zeugen der Anklage gehört werden. Neben mehreren für ihre Festnahmepraktiken berüchtigten Göteborger Polizeibeamten eines „zivilen Eingreiftrupps“ sind auch ein Fotojournalist und zwei Globalisierungskritiker aus Schweden vorgeladen. Für Letztere hatten die Proteste schon juristische Konsequenzen. Einer der jungen Männer war in erster Instanz von einem Göteborger Gericht zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nach massiver Kritik an dem Urteil reduzierte das oberste Gericht Schwedens das Strafmaß auf sechs Monate Haft. Die Richter fanden, die polizeiliche Räumung der Schule als Anlass für die Aktionen gegen Polizeiautos müsse strafmildernd bewertet werden.

Für Sabine M. aus Kreuzberg hatten die Ermittlungen der schwedischen Justiz schon vor Prozessbeginn spürbare Konsequenzen. Immer wenn Globalisierungskritiker in den letzten zwei Jahren irgendwo in Europa zu Protesten aufriefen, bekam sie Post von der Berliner Innenverwaltung. Vor den Protesten in Genua durfte sie Berlin nicht verlassen und musste sich täglich bei der Polizei melden.

Sabine M.s Verteidiger Wolfgang Kaleck will nun die Berliner Richter davon überzeugen, das Verfahren komplett einzustellen. Er kritisiert, die deutschen Staatsanwaltschaften würden das aus Schweden übersandte Beweismaterial nicht sorgfältig auf Widersprüche prüfen. Zudem seien die Straftatbestände „schwerer Landfriedensbruch“ im schwedischen und deutschen Strafgesetzbuch nicht miteinander vergleichbar.

Für den Vorsitzenden des Republikanischen Anwaltsvereins verdeutlicht die von Schweden nach Berlin verlagerte Strafverfolgung der Globalisierungskritiker „die Beliebigkeit, mit der europäische Grenzen einmal geöffnet und dann wieder geschlossen werden.“ Freier Warenverkehr, Austausch polizeilicher Informationen und länderübergreifende Ermittlungen seien grenzenlos möglich. „Für Kritikerinnen der EU-Politik jedoch gibt es keine Reisefreiheit, und bei der Verteidigung sind die Möglichkeiten eingeschränkt“, kritisiert Kaleck.