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: HELMUT HÖGE über Kabelwerker

Das Fading-away des Proletariats

Die bürgerliche Öffentlichkeit scheint sich mit dem Verschwinden ihrer industriellen Basis abgefunden zu haben. Als jetzt das Kabelwerk Oberspree (KWO) dichtmachte, titelte die BZ geradezu triumphalistisch: „Ich bin der Letzte!“ Gemeint war damit der Kabelmechaniker Harald Schrapers (47), der nach 30-jähriger Tätigkeit im KWO „ohne Abfindung“ aus der versteckten in die offene Arbeitslosigkeit entlassen wurde. Zuvor waren bereits die Kabelfabriken von Siemens, Pirelli, Kaiser und Alcatel in Westberlin stillgelegt worden.

Zu Hochzeiten arbeiteten über 36.000 Kabelwerker allein in der „Elektropolis“ Berlin. Das KWO gehörte zur AEG und wurde 1897 gegründet. Zu DDR-Zeiten arbeiteten dort 16.000 Menschen. Bereits bei seiner Privatisierung 1993 durch den britischen Konzern BICC unkten Kabelkartellkritiker, dass diese Übernahme eine schleichende Abwicklung werde. 1997 stieg die niederländische Draka Holding dort mit ein, 1999 übernahm das US-Unternehmen General Bicc das Werk, und zuletzt wickelte es die Wilms-Gruppe ab, die nicht Mitglied im Arbeitgeberverband ist. Jeder dieser „Betriebsübergänge“ ging mit einer neuen Entlassungswelle einher.

Nach Abwicklung des KWO bleiben nun in Berlin nur noch drei kleine Restbetriebe – von Baika, Draka und Wilms – übrig, in denen Glasfaserkabel und Litzen gefertigt, Draht und Kunststoff aufbereitet oder Kabelstränge konfektioniert werden – mit insgesamt etwa 240 Mitarbeitern. Anders als beim Kabelwerk von Alcatel in Neukölln gab es in den vergangenen 13 kapitalistischen Jahren beim KWO keinen einzigen Arbeitskampf gegen die Entlassungswellen. „Alles ging seinen ordentlichen Gang“, wie der Pressesprecher der KWO-Geschäftsführung sich ausdrückte. Nur im Herbst 1994 füllten sich die leeren Fabrikhallen noch einmal kurz mit Lärm und Menschen – das war, als der Regisseur Thomas Heise dort Heiner Müllers Revolutionsdrama „Zement“ aufführte.

Im KWO war man bereits zu DDR-Zeiten markwirtschaftlich orientiert, deswegen meinte man, dort besonders gut für den kommenden Kapitalismus gerüstet zu sein. Dies war jedoch rein betriebswirtschaftlich gedacht – ohne die Politik des internationalen Kabelkartells ICDC ins Kalkül zu ziehen, das zuletzt 1997 vom Bundeskartellamt wegen Preisabsprachen mit einer Geldbuße in Höhe von 280 Millionen Mark bedacht wurde.

Der ehemalige KWO-Bereichsökonom Reinfried Musch, der nun freiberuflicher Controller u. a. bei der taz ist, meint: „Da ist jetzt auch eine Menge Experiment und Innovation mit untergegangen.“ Seine Arbeit hatte u. a. darin bestanden, „wettbewerbsnahe Arbeitsbedingungen“ herzustellen:

1. „Aufgrund unseres speziellen Brigadeprinzips – mit begrenzter Budgethoheit – hatten wir nur 20 Prozent der üblichen Überstunden, d. h., wir waren in der Lage, flexibel alle möglichen Fertigungs- und Sortimentswünsche sofort zu erfüllen.“ Im Sozialismus wurde ansonsten meist mit Überstunden gearbeitet.

2. „Ein weiterer Engpass, das waren meistens die Maschinen-Verfügbarkeit, Ausfallzeiten, Reparaturen etc., spielte kaum noch eine Rolle. Bei uns waren die Instandhalter der Produktionsbrigade assoziiert, d. h., sie kamen auf Bedarf. Das hat die Stillstände weitgehend abgebaut. Und im Übrigen waren die Kabelwerker daran interessiert, dass die Maschinen liefen, denn sie verdienten ihr Geld nicht mit Überstunden, sondern im Leistungslohn.“ Dieser bestand aus einem technologisch kalkulierten Grundlohn, wobei es Lohngruppen – gegliedert nach Qualifikation und Leistung – gab plus Leistungszuschlägen, die sich aus Normübererfüllung und Schichtzuschlägen zusammensetzten.

Hinzu kam nun noch die Innovation von Musch: ein Überstundenabbauzuschlag. „Die Grundregel dabei lautete: 50 Prozent der Einsparungen für die Kabelwerker und 50 Prozent für das Werk.“ In summa: „Wir waren auf die Marktwirtschaft gut vorbereitet.“ Genützt hat es ihnen jedoch nichts!