Schau surrealistisch, Engel

Bourgeoisie in der Endlosschleife: „Der Würgeengel“, einst ein Film von Buñuel, ist inzwischen ein Theaterstück von Karst Woudstra. Thomas Ostermeier inszeniert es klaustrophobisch in Berlin

Die Lage spitzt sich weiter zu.Die Tür bleibt für alle verriegelt

von ANNE KRAUME

Fast ist man überrascht, dass sich die Türen nach dem Applaus wirklich öffnen. Fast zögert man vor dem ersten Schritt in Richtung Tür. Und an der Schwelle noch einmal ein kurzes Stocken – aber nein, dazu besteht kein Anlass: Wir dürfen wirklich gehen, keine geheimnisvolle Macht hält uns länger in Jan Pappelbaums eleganter Lounge in der Berliner Schaubühne zurück.

Tagelang, nächtelang haben wir über zweieinviertel Stunden hinweg dem verzweifelten Nicht-weg-Können der Gäste auf der Bühne beigewohnt. Im Vordergrund ordnet sich dort alles um ein halbrundes Bassin mit fetten fleckigen Fischen – teure Karpfen aus Japan. Dahinter niedrige Sitzgelegenheiten, helles Leder, Parkett, indirekt beleuchtete Wandschränke und schaukelnde Perlenschnüre davor. Die Gesellschaft ist nach einem gemeinsamen Opernbesuch in der Villa des liberalen Politikers Siegfried Wallrabe (Wolf Aniol) zusammengekommen, und nun sitzt man aus ungeklärten Gründen dort fest.

Das Stück „Der Würgeengel“ von dem Niederländer Karst Woudstra, das Thomas Ostermeier jetzt an der Schaubühne inszeniert hat, lehnt sich eng an Buñuels Film gleichen Namens von 1962 an: Ein schwarzer Engel mit gewaltigen Flügeln verriegelt schweigend die Tür der Villa, niemand kann den Raum mehr verlassen. Man umkreist sich wie die Goldkarpfen in ihrem Bassin, man legt sich zum Schlafen nieder, man unterhält sich scheinbar zwanglos. Nach einer halben Stunde stirbt der Dichter, der allerdings immer schon herzkrank war. Man räumt die Leiche in den Wandschrank und fährt fort, einander intime Geständnisse abzupressen, und allmählich drohen die Kondome auszugehen.

Als sich die beiden jüngsten Gäste gemeinsam umbringen, kommentiert einer der älteren: „Das hätten wir doch auch getan, wenn wir gewusst hätten, wie unser Leben werden würde.“ Thomas Ostermeier zelebriert den Leerlauf dieses bürgerlichen, wohlsituierten Lebens in einer klaustrophobischen Endlosschleife. Quälend langsam und zermürbend schraubt sich eine Handlung fort, die eigentlich keine ist. Selbst die Szenen und Wortwechsel, die der Inszenierung rund ums Karpfenbassin rascher und slapstickartig geraten, machen nichts leichter. Auch wenn Anne Tismer als Hausherrin Martha zu wahrer Größe aufläuft, wenn sie ihre kleinen Fluchten ins Bad beständig mit hanseatisch verwaschenen Konsonanten und leiser Irritation ankündigt: „Ich geh auf Toledde“ – das kurze Auflachen über die Runninggags lässt den Zuschauer das Eingesperrtsein im Leerlauf danach nur noch schmerzhafter empfinden.

Wenn die Ostermeier’sche Endlosschleife so die selbstzerstörerischen Mechanismen einer hedonistischen Gesellschaft ohne Werte und Ziele vorführt, dann wird deutlich, dass bei ihm wie schon bei Buñuel hinter dieser nicht hinterfragten Konstruktion einer komplett geschlossenen Gesellschaft durchaus ein sozialkritischer Impetus steckt. Dennoch geht es auf der Bühne ebenso sehr wie im Film auch um die Produktion von surrealistischen Bildern.

Oder um die Produktion von Bildfetzen: Ostermeier löst die Wahrnehmung seiner Zuschauer immer wieder im minutenlangen Zucken des stroboskopischen Lichts und im Wummern der darunter gelegten Bässe auf. Dann spitzt sich die Lage weiter zu, dann funktioniert das flackernde Licht kurz als Zeitraffer in der gähnend langen Zeitlosigkeit des Abends. Dennoch wächst die Beklemmung gerade in diesen beschleunigten Szenen, während man den Partygästen beim hysterischen Blindekuhspielen oder bei der Jagd auf die Karpfen zusieht. Wer tastet da nach wem, wer zappelt warum?

Den aufgelösten Bildern aus diesen Sequenzen entspricht das äußerliche Auseinanderfallen der soignierten Personen auf der Bühne. Der Marineoffizier (Kay Bartholomäus Schulze) trägt nicht mehr Galauniform, sondern einen tarnfarbenen Slip; der eleganten Selma (Jenny Schily) ist die kunstvoll gedrehte Blondfrisur auf die Schultern gerutscht, und Anne Tismer als Martha sieht sich genötigt, ihr knappes Pepitakostüm mit einem Handgriff aufzureißen, um es in eine Kittelschürze zu verwandeln: Die flegelhaften Gäste haben aus der „Toledde“ einen Augiasstall gemacht, den sie auf der Stelle auszumisten gedenkt.

Über das ganze Stück hinweg sieht der Zuschauer seinen eigenen Blick auf die Gäste verdoppelt in dem des Studenten Clemens Hacke (Lars Eidinger), der als Diener im Nebenjob den Wahnsinn um sich herum mehr als jeder andere von außen betrachtet. Er allein ist nicht verstrickt in die banalen Geschichten der anderen, sondern produziert seine eigenen Geschichten. Dass dieser elastische Junge in seiner Sexbesessenheit allerdings nicht weniger banal ist als die bourgeoisen Gestalten, die er unwillig bedient, führt seinen unbeteiligten Blick sofort ad absurdum: Der Engel hat die Tür für alle verriegelt.