Der Mann, der von der Strafbank kommt

Michel Friedman ist zurück. Das heißt: zurück im Fernsehen. Vier Monate nach seinem Rücktritt von allen Ämtern wegen öffentlicher Diskussionseines Privatlebens (Kokain und osteuropäische Prostituierte) arbeitet er an seiner zweiten Chance. Gibt es diese Chance da, wo er sie sucht?

aus Berlin NADJA KLINGER

Was haben Sie denn erwartet?

Wer?

Na, Sie.

Ich?

Ja, was Sie erwartet haben, das würde mich mal interessieren.

Also, ich, na ja, ich wollte mal schauen, wie das so geht. Ich wollte einen Platz, von dem aus ich was sehen kann. Aber dann waren da so viele Menschen. Es wurde eng. Man hat mir meinen Mantel weggenommen, die Tasche. Ich stand in einer Schlange, es ging nicht vorwärts, dann wurde ich aufgerufen, dann sollte ich noch mal zurück in die Schlange. Dann sollte ich beide Arme heben.

Im Grünen Salon fand ich einen Sessel. Jemand sagte: Meine Damen und Herren, klirren Sie mit den Gläsern, halten Sie sich nicht zurück, das ist das Prinzip unserer Talkshow, es soll wie in einer Kneipe sein! Der Mann am Flügel schlug in die Tasten. Jemand sagte: Stehen Sie mal auf! Und trug meinen grünen Sessel weg. Ich stand noch, als Michel Friedman kam.

Er ist ein kleiner Mann. Genauer gesagt: Ich bin eine große Frau. Aber hier ging es nicht um Zentimeter, sondern um Minuten. Wir hatten noch zwei. Die Sendeleiterin hob den Arm und wir schalteten uns ins laufende Programm von n-tv ein. Friedman setzte sich und erstarrte. Im Programm lief der Nachrichtenüberblick. Es erstarrten auch die Moderatoren. Noch eine Minute. Möglicherweise würde es einen Fehlstart geben.

Wir gingen gerade auf Sendung, als man statt des grünen Sessels einen roten brachte. Michel Friedman ist wieder da, verkündete der Moderator, nur vier Monate nachdem man bei ihm Kokain gefunden und ihn als Endabnehmer des polnisch-ukrainischen Prostituiertenhandels enttarnt hat.

Genau, er war wieder da, und ich wollte mal sehen, wie das so geht. Jemand warnte mich: Vorsicht, an Ihrem roten Sessel wackelt ein Bein! Ich hielt mich die ganze Sendung in der Schwebe. Ich sah, wie die Moderatoren und Friedman aus den Startblöcken schnellten. Ich sah sie losstürmen. Um die günstigen Bahnen rangeln. Ich sah, wie sie mit voller Kraft in die Kurve gingen. Ich sah ein Rennen, das nicht durchzuhalten war. In dem niemand ans Ziel dachte. Ein aussichtsloses Rennen. Ich hielt mich recht wacker in meinem Sessel, es ging schon. Es gab sowieso im ganzen Grünen Salon keinen Platz, von dem aus man wirklich etwas sehen konnte.

Ohne Wenn und Aber

Eigentlich sollte Claus Strunz, der Moderator der Talkshow im Grünen Salon, sofort in Führung gehen. Auf seiner Karteikarte stand die erste Frage: „Sind Sie für Ihren Aufenthalt in Berlin wieder in Ihrer Suite im Hotel Interconti abgestiegen?“

Strunz hat diese Frage auch gestellt. Er hat Michel Friedman gleich zu Rennbeginn die osteuropäischen Prostituierten übergeladen. Und das Kneipenpublikum hat gegluckst. Bis Friedman locker, als habe er fleißig trainiert, antwortete: „Nein, ich hab bei Freunden übernachtet.“ Hätte Strunz, der im wirklichen Leben Chefredakteur der Bild am Sonntag ist, für diesen unwirklichen Abend einen Trainer gehabt, dann wären dem wohl schon kurz nach Sendebeginn die Nerven durchgegangen. Wahrscheinlich nach folgendem Satz: „Das Leben besteht aus vielen Kapiteln. Ich habe leider dieses unsägliche Kapitel geschrieben.“ Gesprochen, fast gebrüllt, hat den Satz Michel Friedman. Und hinzugefügt: „Aber das, was man getan hat, muss man tief verinnerlichen.“ Der Trainer von Claus Strunz hätte mit Ansehen müssen, wie locker Friedman mit einem Rucksack voll Koks und Prostituierten in die erste Kurve ging. Er hätte mit anhören müssen, wie sein Moderator sagte: „Wir kennen Sie als so sensiblen Menschen. Jetzt hören wir Sie so hart reden.“ Und wie Friedman antwortete: „Schreiben Sie mir doch meinen Text vor!“ Vermutlich wäre der Trainer fuchtelnd aufgesprungen. Es gab aber keinen Trainer.

Und so ereignete es sich, dass der Moderator, eigentlich nicht nur moralisch im Vorteil gegenüber dem Talkshowgast, schon in der ersten Kurve die ungünstige Außenbahn nahm. Statt des Trainers war nur Andrea Fischer da, die an Strunz’ Seite kämpfte und es sich nicht leisten konnte, hochzugehen. Sie war einmal grüne Gesundheitsministerin. Auf der Straße jedoch sprechen die Leute sie wegen des Fernsehens an. Andrea Fischer trägt die Ernsthaftigkeit, mit der sie im wirklichen Leben gearbeitet hat, auch in die Talkshows, die sie jetzt moderiert, hinein.

Andrea Fischer hat gründlich recherchiert. Sie hat Mut. Sie spricht Friedmann immer wieder auf sein moralisch fragwürdiges Geschäft mit den Prostituierten an. Der antwortet, er habe nicht gewusst, dass die Damen über den Frauenhandel in seine Hotelsuite kamen. Er blickt, über ihre Recherchen hinweg, direkt in Andrea Fischers Augen, aber nur, um den Blick mit seinem letzen Wort auch wieder deutlich von der Moderatorin abzuwenden. Bis hierhin, meine Liebe, und nicht weiter!

Friedman ist es, der das Rennen bestimmt. Er sagt, er habe ein Lebenskrise gehabt. Er sagt, der Koks, Drogen, seien das Letzte. Er sagt, er ist nicht mehr der Alte. Er sagt, er wolle eine zweite Chance. Seine Sätze sind so was wie der Ellenbogen im Gedränge. Genau genommen laufen alle diese Sätze immer nur auf den einen hinaus: „Ich habe meine Fehler ohne Wenn und Aber zugegeben.“ Der Punkt am Ende dieses Satzes ist spürbar: Friedman hat mit seinen Spikes kräftig ausgetreten.

Manchmal, wenn Michel Friedman diesen einen Satz fünfmal wiederholt hat, wird er wütend. Wenn er wütend wird, wird er laut. Aber er bewegt sich nicht. Nicht die Hände, nicht den Kopf, nicht einmal die Augen. Um ihn herum wurde gefuchtelt, als man ihn fragte, ob er sich jetzt im Fernsehen nicht bei den Prostituierten, mit denen er zu tun hatte, entschuldigen wollte. „Bei den betroffenen Frauen habe ich mich zu entschuldigen, aber doch wohl nicht bei der Öffentlichkeit“, antwortete Michel Friedman, der noch vor Wochen seine Lebensgefährtin Bärbel Schäfer in aller Öffentlichkeit um Verzeihung gebeten hatte. Der Satz stand ohne Zutaten einfach so da. Und so ließen die Moderatoren ihn stehen. Der Mann am Flügel begann zu spielen. Der Fernsehsender machte eine Werbepause. Eine Frau aus dem Publikum umarmte Michel Friedman. Und Andrea Fischer fragte Claus Strunz: „Wie machen wir jetzt am besten weiter?“

Im Grunde war das egal. Bislang waren Michel Friedmans Erklärungen kaum einleuchtend, geschweige denn zufrieden stellend. Niemand glaubte so recht, dass der Mann, der das s in Antisemitismus immer noch genauso scharf aussprach, der noch dieselbe Frisur wie einst in der Hotelsuite trug und der offensichtlich in den letzten vier Monaten weiterhin regelmäßig im Solarium war, ein neuer Mann war. Schon immer war Michel Friedman umstritten. Und nun war er auch noch viel zu weit gegangen, als dass man einfach Mitleid mit ihm haben und ihm verzeihen konnte. Es war egal, wie Andrea Fischer und Claus Strunz in ihrer Talkshow weiter mit ihm verfuhren. Er lief immer noch auf der günstigen Innenbahn.

Seit Michel Friedman um eine zweite Chance gebeten hat, geht es darum, ob man diese zweite Chance haben kann. Genauer: Ob man diese zweite Chance in der Öffentlichkeit haben kann. Nach einer Antwort auf diese Frage wird nach wie vor gesucht. Bislang erfolglos. Trotzdem haben am Sonntag die ARD und am Montag nun n-tv Friedman zu sich in die Sendung geladen. Nun diskutiert er mit. Das ist sie schon, die zweite Chance, und der Einzige, der merkt, dass er sie also nicht mehr zu erwähnen braucht, ist Friedman selbst. Dafür erwähnt er seine Lebenskrise. Ohne dass jemand ihn nötigt zu erklären, was für eine Krise das ist, deren man mit Koks und fremden Frauen im Interconti unter falschem Namen Herr wird. Zwar glaubt niemand, er habe nicht gewusst, unter welch menschenunwürdigen Bedingungen die Prostituierten in sein Bett kamen. Jedoch lässt man ihn in seine alte Rolle als kritischer Journalist schlüpfen. Und kaum ist er da drin, vergisst er sich schon selbst. Sein eigenes Drama. Die letzten vier Monate, in denen er, wie er sagt, „geblutet, gelitten und geheult“ hat. Kaum ist der neue Friedman im Grünen Salon wieder in der Rolle des alten, redet er über die Bürger aus Neuhof bei Fulda. Die haben dieser Tage nicht einmal gemerkt, dass ein CDU-Abgeordneter antisemitische Reden schwingt. Sie hätten auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht erfahren, was mit den Juden passiert ist, sagen die Bürger. Das stand am Morgen in der Zeitung. Am Abend merkt Michel Friedman gar nicht, dass er in seiner vorgeblichen Unwissenheit den Bürgern, die er kritisiert, sehr ähnlich ist. Und jemand anderes in der Talkrunde bemerkt das auch nicht. Zumindest nicht laut.

Demut, sagt Andrea Fischer später, hätte sie von Friedman erwartet. Da sind die Kameras längst abgeschaltet. Es ist fast dunkel im Grünen Salon. Und gleich wird es still. Demut braucht Ruhe. Wo Friedman ist, ist es viel zu laut.