Die Förderer Mengeles

Alle Industrieländer träumten den schrecklichen Traum vom vollkommenen Menschen. Das „Dritte Reich“ setzte ihn am radikalsten um, zeigt die Ausstellung „Tödliche Medizin“ im Jüdischen Museum

VON CORD RIECHELMANN

„Gute Erbveranlagung“ oder „Wohlgeborenheit“ heißt der griechische Begriff Eugenik ins Deutsche übersetzt. Im Jüdischen Museum wird der sozusagen demokratische Grund aller Vorstellungen und Theorien der Eugenik gleich hinter dem Eingang in die Ausstellung „Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus“ sichtbar: Das erste ins Auge fallende Objekt ist der „gläserne Mensch“. Ein aus Glas durchsichtig geformtes Modell eines Menschen, das den Blick auf Blutbahnen, Muskeln und Organe im Inneren freigibt.

Das Modell wurde zuerst 1930 anlässlich der II. Internationalen Hygiene Ausstellung im Dresdener Hygiene Museum gezeigt. Der Wunsch, den menschlichen Körper durchsichtig und damit beherrschbar und von Krankheiten freizumachen, war eine allgemeine Forderung der Zeit, die selbst in der Endphase der Weimarer Republik nur peripher mit den Nazis zu tun hatte.

Nicht weit vom „gläsernen Menschen“ entfernt stößt man auf den Namen Sir Francis Galton. Galton (1822–1911), ein Vetter von Charles Darwin, wurde 1909 wegen seiner Verdienste um die Eugenik geadelt. Er war einer der Begründer jener Methoden der Gesichts- und Körpervermessung und ihrer statistischen Auswertung und Beurteilung, die die gesamte Anthropologie bis in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger bestimmte. Galton hatte bereits 1864 eine Arbeit über „Talent und Charakter“ veröffentlicht, in der er das Credo jeder folgenden Eugenik auf diese Formel brachte: Alle Eigenschaften des Menschen beruhen auf Vererbung, auch die seelischen und intellektuellen. Will man also eine Gesellschaft verbessern, muss man zur Förderung der „Erbgesunden“ mit den gewünschten Eigenschaften übergehen. Das tat Galton, indem er Preise an besonders kinderreiche Familien mit „guten Eigenschaften“ verlieh.

Die von Galton begonnene und geförderte Eugenikforschung hatte Anhänger in allen Lagern, rechts und links. Sie wurde von Frauenrechtlerinnen, George Bernhard Shaw, H. G. Wells, Winston Churchill und Woodrow Wilson gleichermaßen geschätzt. Auch die Rockefeller Foundation unterstützte noch 1939 in Deutschland Eugenikforschungsprojekte auf hohem finanziellen Niveau. Das ist der allgemeine, alle entwickelten Gesellschaften des Westens ergreifende Sog des „schrecklichen Traumes vom vollkommenen Menschen“, wie es der Sozialforscher Manfred Kappeler in seinem gleichnamigen Standardwerk formuliert.

Die Ausstellung arbeitet mit einer These, die die rückwärtige Betrachtung der Geschichte der Idee der Einteilung von Menschen in „Erbgesunde“ und „Erbkranke“ nicht linear ausnahmslos im Nationalsozialismus enden lässt. Die von Susan Bachrach vom United States Holocaust Memorial Museum in Washington in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum kuratierte Ausstellung begreift das „Dritte Reich“ als eine „biopolitische Entwicklungsdiktatur“. Der Begriff ist gut gewählt und wird im Katalog zur Ausstellung in einem grundlegenden Essay von Hans-Walter Schmuhl sehr gut erklärt. Biopolitik steht in diesem Zusammenhang für den Tatbestand, dass wissenschaftliche Wahrheitsregime nicht von denen der politischen Macht zu trennen sind. Das impliziert, dass es auch eine „biopolitische Entwicklungsdemokratie“ geben kann und – das fügen wir hier hinzu – immer noch gibt.

Der deutsche Sonderweg in den Terror der Nazis beginnt nach dem Ersten Weltkrieg und hat seine Ursache in der Annahme, dass mit den 2 Millionen gefallenen deutschen Soldaten gerade die „Erbbesten“, die Mutigsten und Intelligentesten aus dem „Kampf ums Dasein“ genommen worden seien. Man übertreibt nicht, wenn man fast die gesamte Biologie, Medizin und Anthropologie der Weimarer Republik unter der Fragestellung subsumiert, wie man diese „Erbgutschwächung“ durch den verlorenen Krieg bevölkerungspolitisch wieder ausgleichen kann. Im wissenschaftlichen Zentrum steht dabei das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, Menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin. Es gehört zu den herausragenden Leistungen der Ausstellung im Jüdischen Museum, die Verschärfung der Forschungsfragen unter den Nazis als etwas darzustellen, das bei weitgehender methodischer und personeller Kontinuität sozusagen fließend aus den wissenschaftlichen Institutionen der Weimarer Republik hervorging.

Dennoch lässt die Ausstellung den Betrachter an einigen zentralen Ausstellungsobjekten ratlos zurück. Das hat damit zu tun, dass sie ihre Erzählungen um die handelnden Personen im Jahr 1945 abbricht. Das ist für ein Projekt, das die Verbrechen nationalsozialistischer Akteure an Menschen mit geistiger Behinderung, psychischen Erkrankungen oder mit für minderwertig befundenen sogenannten Erbanlagen in der Zeit der NS-Diktatur in den Mittelpunkt rückt, zwar verständlich, aber trotzdem merkwürdig unangemessen.

Es ist unverständlich, dass die Kontinuitäten nicht bis in die Bundesrepublik verfolgt werden. Anlässe bietet das handelnde Personal des wissenschaftlich sanktionierten Rassenwahns genug. So wurde Otmar Freiherr von Verschuer, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie von 1942 bis 1948 und der wichtigste wissenschaftliche Förderer der Arbeiten Josef Mengeles auch in Auschwitz, nach dem Krieg als Mitläufer eingestuft. Ab 1951 lehrte er wieder als Professor für Humangenetik in Münster. In dieser Funktion hat er sich dann auch 1958 zum „Vagantenproblem“ nicht sesshafter Menschen und deren Sippenwanderungen geäußert. Das geschah in eindeutiger Kontinuität zu den Äußerungen der Anthropologie der Dreißigerjahre, die sich mit dem nicht heilbaren „Wandertrieb“ von Sinti und Roma beschäftigte. Das ist nur ein Beispiel und nicht mal das Erschreckendste. Hinweise in diese Richtung hätten der ansonsten pädagogisch hervorragend gestalteten Ausstellung gutgetan. Denn 1945 war keine Stunde null, und in der Biopolitik feierten gerade rassistische Ressentiments wie Körperoptimierungstheorien eine Renaissance.

Täglich 10–20 Uhr, montags 10–22 Uhr. Bis 19. Juli