Demenz als Widerstand

Eine ergreifende postkoloniale Gothic Novel von David Chariandy

Wenn man davon ausgehen kann, dass Krankheiten wie Hysterie oder Anorexie auch kulturelle Phänomene sind, die zu anderen Zeiten oder an anderen Orten gar nicht vorkommen: Warum dann nicht dasselbe von der Demenz annehmen? Spätestens auf Seite vierzig dieser lichtlosen und ergreifenden postkolonialen Gothic Novel wird alles klar. Die Mutter des Ich-Erzählers in David Chariandys Roman „Der karibische Dämon“ ist nicht vergesslich geworden wegen fehlerhafter chemischer Verbindungen im Hirn. Diese Frau hat sich für das Vergessen entschieden.

Warum das so ist? Dies herauszufinden hat sich David Chariandys Ich-Erzähler vorgenommen, als die Geschichte einsetzt. Er nimmt es auf sich, kehrt zu seiner Mutter zurück, zu einem Elternhaus, das nicht mehr auszuhalten war. Alles schwemmt wieder an: Natürlich wollte er als Sohn von Einwanderern aus Trinidad mit afrikanischen und südasiatischen Wurzeln in einer weißen Nachbarschaft in Vancouver vor allem immer so unsichtbar wie möglich sein. Natürlich war das bei einer Mutter wie dieser unmöglich: Anfangs vergisst Adele nur Kleinigkeiten, aber bald beginnt sie, im Müll zu wühlen, die Hunde der Nachbarn zu treten und nackt auf der Straße zu tanzen. Zuerst verabschiedet sich der Vater, indem er bei einem Arbeitsunfall stirbt, dann macht sich der Bruder aus dem Staub. Schließlich muss auch der Erzähler verschwinden.

Doch nun ist er zurück, um die Vergangenheit zu einer einigermaßen kohärenten Erzählung zu puzzeln. Dabei muss es um die Kindheit der Adele in der Karibik gehen, als die finsteren Mythen von blutsaugenden alten Frauen noch Schlagkraft besaßen – und um ihre Ankunft in einem Kanada, in dem sie den weißen Schnee und die weißen Baisertorten in dem Café bewundert, das sie nicht betreten soll: David Chariandy, selbst Sohn von Einwanderern aus Trinidad, ist der Erste in seiner Familie, der höhere Bildung genoss. Er weiß, wie Rassismus kanadischer Färbung schmeckt – dass er weniger laut ist als anderswo, aber darum nicht weniger böse. Vor diesem Hintergrund erscheint die Schilderung eines Alltags mit einer Frau, die ihren Sohn manchmal erkennt, manchmal erstechen will und Mehl auf dem Küchenboden verteilt und Eierschalen in den Mixer steckt, weil in ihrem Kopf ein Rezept verrutschte, maximal melancholisch und schaurig.

„Weder Mutter noch Vater wollten weitere Untersuchungen oder Fragebögen … besonderes Misstrauen brachten sie ärztlichen Einrichtungen und Räumlichkeiten entgegen … Die blutigen Behandlungen, die gezackte Nähte hinterließen. Patienten, denen die Köpfe aufgemeißelt und wie alte Turnschuhe achtlos wieder zugeschnürt wurden“, heißt es an einer Stelle. Amnesie ist nicht nur ein pathologisches Leiden, sondern auch ein widerständiger Akt der Willenskraft, dem mit Schulmedizin nicht beizukommen ist. Oder, um es mit David Chariandy zu sagen, der den karibischen Dichter Derek Walcott zitiert: „Amnesie ist die wahre Geschichte der Neuen Welt.“ SUSANNE MESSMER

David Chariandy: „Der karibische Dämon“. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009, 204 Seiten, 16,80 Euro