jugend liest
: Kinder brauchen so böse Bücher!

Die Welt ist schlecht, die Welt ist böse. Diese Feststellung ist nicht nur banal, sondern leider auch wahr. Hunger, Kriege, Amokläufe. Wer die taz liest, kennt sich da gut aus und wundert sich jeden Tag wieder, wie schön das Leben trotzdem sein kann und vor allem natürlich die Liebe, wenn man sie denn mal für ein Weilchen zu halten vermag. Böse Welt, gutes Leben – das ist ein rettendes Paradoxon. Die Fähigkeit, mit krassesten Widersprüchen klarzukommen, ist ja eine Grundvoraussetzung für gelingendes Leben. Merkwürdig ist es deshalb, wie wenig Widersprüche geschätzt werden. Besonders schwer auszuhalten sind die Widersprüche des Lebens offenbar für Kinderbuchmacher. Wie ein Fluch hat sich die Überzeugung breitgemacht, am Ende müsse doch alles gut werden. Optimistisch sollen unsere Kleinen mal durchs Leben gehen, fröhlich im Angesicht der Katastrophen – über die man natürlich nie und nimmer lachen darf. Das ist ganz schön verlogen und selbst Kindergartenkinder spüren das schon.

Insofern kann man über „Lola rast“ nur aufatmen. So ein Bilderbuch war schon lange fällig. „Schreckliche Geschichten“ sind darin zu lesen und anzuschauen: Nicht nur die kleine Lola, auch die Episoden rasen auf ihr schlimmstmögliches Ende zu. Lola liebt die Geschwindigkeit. Wäre sie erwachsen, zöge sie mit Lichthupe und 230 Sachen auf der Autobahn an allen vorbei. Es ist wunderbar, so zu rasen – eine aggressive Lust, sicher, aber eben doch eine Lust. Lola hat ein Laufrad und sie hat das Laufen und Rollen zur Perfektion gebracht. Sie saust durch Pfützen, um Ecken, über Kreuzungen und lässt sich nicht aufhalten, von niemandem. Alle Warnungen schlägt sie in den Wind, alle Hindernisse haut sie um, auch die menschlichen. Lola rast und Lola ist glücklich. „Lola jauchzt und fährt im Nu / auf die große Kreuzung zu. / Jetzt müsst’ sie halten! Aber ach! / Da rast sie weiter. Und dann: Krach!! / Das Kind ist wirklich ganz verrückt! / Ein Laster hat sie plattgedrückt. / Und nach drei Tagen voller Klagen / wird Lolas Sarg ins Grab getragen. / Das Laufrad legt man auch dazu. / Jetzt geben beide endlich Ruh!“

Und so geht das weiter: Auf den Geschwindigkeitswahn folgt Anna-Lena im Schönheitswahn. Was passiert, wenn Malte sein Zimmer nie aufräumt, wenn Lisa ihre Zähne nie putzt, wenn der kleine Konstantin seiner Mutter immer weiter davonläuft? Immer geht es noch fieser, noch fürchterlicher. In der Reimform und im karikierenden, spitzen Strich der Illustrationen denkt man unwillkürlich an den „Struwwelpeter“, der nach Jahrzehnten der „Struwwelpeter“-Verachtung plötzlich in neuem Licht erscheint: weniger als besonders gemeine Ausgeburt Schwarzer Pädagogik denn als Katastrophenszenario mit kathartischer Wirkung. So schlimm kann es kommen! So übel kann einem harmlosen Halbwüchsigen mitgespielt werden. So bitter sind die Folgen der Lust.

Man wünscht sich mehr davon. Dass der Verlag die unbarmherzigen Illustrationen von Anke Kuhl „drollig“ nennt, ist schade. Man hat das Gefühl, da hat die Marketingabteilung der Schneid verlassen: Kann man so etwas verkaufen? Hoffentlich! Kinder brauchen böse Bücher. Geschichten, hart wie die Grimm’schen Märchen, aber nah an der Lebenswelt. Der Klett Kinderbuch Verlag, ein Ableger des Stuttgarter Schulbuchverlages Klett, ist gerade erst in Leipzig an den Start gegangen. Man wünscht den Machern Erfolg, damit ihr Mut wächst und sie ihre fiese Ader lustvoll pflegen. ANGELIKA OHLAND

Wilfried von Bredow, Anke Kuhl (Illustration): „Lola rast und andere schreckliche Geschichten“. Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2009, 32 Seiten, 13,90 Euro