Hör doch mal auf, Günter!

Die Linke glaubt noch immer, die Kämpfe der Sechziger und Siebziger führen zu müssen – den Wonnen des im eigenen Mief vor sich hin Dünstenden zuliebe

VON JAN FEDDERSEN

So stand es Anfang der Woche in der taz zur Deutung der Beiträge Hans Magnus Enzensbergers in der intellektuellen Arena, in die er sie zuverlässig seit fast fünfzig Jahren einträgt: dass es, anders als es Jürgen Habermas und Günter Grass beliebt, für Enzensberger nie ein Anreiz gewesen sei, im Chor des allfällig Gutgemeinten eine Stimme zu haben. Gegen Nazis seien ja alle, so mag das Credo des Mannes gelesen werden, verstand unser Beobachter Alexander Cammann zu Recht.

Was hauptsächlich gemeint sein mag mit diesem Befund: Die Linke, die Linksliberalen, also alle, die sich irgendwie Restaurativem, Revanchistischem oder einfach nur dem Mainstream ausgeliefert sehen, langweilt.

Und zwar nicht, weil ihre Weltanschauung sich als links versteht, sondern weil das, was Linke weltanschaulich zuallermeist teilen, auf Lagerbewusstsein setzt, die Konstruktion des „Hier wir, da die anderen“ und aufs Freund-Feind-Denken. Und zwar wie in einer Familie: Die sei eine Burg, und wer den Frieden innerhalb ihrer Zinnen stört, gilt als Agent, Steigbügelhalter oder Kostgänger jener, von denen die BurgfürstInnen glauben, dass sie die Burg stürmen werden.

Enzensberger und nur wenige andere unterschieden sich von den Grass und Habermas dadurch, dass sie sich nicht scheuten, das gedanklich Unerwartete, ja Unerwünschte auch zu sagen. Ihm schien, darf fantasiert werden, das gluckenhafte Einverständnis des Milieus, also der linksliberalen Szene, zu stickig, zu eng, zu blöd und vor allem allzu unterfordernd.

Die linke Szene (früher sagte man: ßien) hat diese Dinge des Weltanschaulichen immer anders gesehen. Wer abtrünnig dachte, ließ es, um sich nicht gesellschaftlich unmöglich zu machen, denn wer will schon einsam sein. Dissidenten hatten schon Glück, kamen sie mit dieser Titulierung davon, lieber sprach man von Renegaten, kalten Herzen von Verrätern. Das lief ja immer nach dem gleichen Schema ab. Das und das darf man nicht öffentlich sagen, denn das schwäche die Position, fördere den Gegner und lenke obendrein vom politischen Kampf ab. In allen Fragen linker Provenienz ging es immer um diese kleinen oder großen Abstoßungsbewegungen. In der realsozialistischen Filiale der DKP sagte man Kritikern der Ausbürgerung Wolf Biermanns, man müsse alles für sich behalten, denn objektiv sei einer wie der Liedermacher ein Zersetzer, ein Zerstörer des Gedankens vom Guten. In den linken Gruppen, die nicht so satt alimentiert und gepampert waren wie die DKP, wirkten ähnliche Prozesse: So erklärt sich, weshalb sich die meisten K-Gruppen noch bis in die frühen Achtzigerjahre hinein am Leben hielten – man konnte sich familiär einfach nicht so gut trennen.

Die Pointe könnte nur sein: Gerade jene Milieus, denen doch auch die taz zugeneigt ist, die sich links fühlen und nennen, die für eine bessere Welt kämpfen, machen oft Angst und atmen nach innen ähnlich erfrischende Luft, wie sie auf Versammlungen der Zeugen Jehovas herrschen dürfte oder in Kegelvereinen, wenn dort Vorstandswahlen nötig werden, oder wie man sie von Jahresversammlungen einer ökologischen Einkaufsgemeinschaft kennt. Wenn dort eine, erschöpft vom Ökobewusstsein, laut sagt, Durst zu haben – auf eine Coca-Cola.

Die Feindbilder waren klar und niemals in Pastell gemalt: Allen Linken der Kapitalismus; Feministinnen Mütter mit Hausfrauenbewusstsein; Ökos alles von McDonald’s, Geizigen die Völlenden, Independentmusikern der Pop. Oder das Verdikt mancher schwulen Männer, dass der gewöhnliche Homosexuelle eine verspottenswerte Figur sei, weil er nur das Private im Sinn habe, nicht das große Ganze. Immer stand alles im Moment der Erkenntnis für alle Zeiten fest. Dass alle jetzt immer ärmer werden, aktuell gern versehen mit dem Zusatz „zunehmend im Zeitalter der digitalisierten Globalisierung“. Oder der Befund, die Bundesrepublik sei, gerade in ihrer Mitte!, ein rassistisches Land, und der Schoß, aus dem es kroch, sei fruchtbar noch, wie Bertolt Brecht gern mies paraphrasiert wird.

Was am ehesten ins Auge fällt, ist die linke Verliebtheit ins Minderheitliche, eigentlich: Elitäre. Zum Zweck des Transports dieser Befindlichkeit hat sie in den frühen Neunzigerjahren – das genaue Datum lässt sich nicht eruieren – einen Zentralbegriff erschaffen. Er heißt Mainstream und ist als Vokabel zu verstehen, die dem Abscheu und der Ablehnung Ausdruck gibt. Die Hauptstrom, so heißt es auf Deutsch, was aber nicht so gut klingt, ist die biedere, unaufgeklärte, reaktionäre Masse – und Masse ist man ja ohnehin nicht, hält lieber auf Individualität, auf Erkenntnis und Eingeweihtheit. Alles, was Mainstream ist, muss mit dem Stempel des Verdachts behaftet werden, denn er verkörpert das Schlechte, das Dumpfe und Dumme. In der Musikszene ist das Phänomen des wütenden Blicks auf den Mainstream besonders krass zu studieren. Schrummelt eine Band Klangliches, das niemand außer ihren FreundInnen so recht hören will, ist es Underground, jedenfalls nichts für die Masse, was diese wiederum nicht stört, denn sie hört ja nicht hin und bevorzugt ohnedies andere Stile.

Aber der Kummer, der entsteht, wenn einer im Underground verharren muss, muss veredelt werden. Und deshalb wird der Mainstream weiter mit Ekel von sich gewiesen. Es wäre schön, würde eine erfolglose Band sagen: Wir haben’s probiert, einen Plattenvertrag zu bekommen, der uns ein gutes Leben ermöglicht, es hat aber nicht geklappt, uns wollen weder viele Menschen zuhören noch erbarmt sich ein Goethe-Institut irgendwo auf der Welt, uns mal einzuladen.

Weil aber dieser Hass auf die Hauptströmung wesentlich einer auf den Erfolg bei vielen ist, dieser sich aber nicht einstellen möchte, bildet man sich im Underground (heute sagt man eher: im Independentbereich) auf das Minoritäre, auf das Unerhörtsein viel ein. Das haben viele dieser MusikerInnen mit Linken gemein. Die haben zwar moralisch in jeder Hinsicht seit den frühen Sechzigern Erfolg, wenngleich es nicht ihrer ist, nicht einmal im Kern, denn fast alle Liberalisierung der Bundesrepublik hatte ja ihren Impuls in liberalen und sozialdemokratischen Szenen, nicht in linksradikalen oder kommunistischen. Achtundsechzig, wie dem auch sei, soll nicht verachtet werden, denn diese Chiffre steht doch für alle die Bürgerkinder, die auch nur ihre Hausaufgaben machen wollten und das bessere Selbstmarketing draufhatten.

So aber liegen die Dinge nun mal: Die Erfolge der Linken könnten als gigantisch beschrieben werden. Mit Deutschland ist kein Weltkrieg mehr zu haben, Kinder werden wertgeschätzt, überhaupt existiert in allen staatlichen Apparaten ein gründliches Bewusstsein für den Schutz der Schwachen, jener zumindest, die sich nicht helfen können.

Aber Linke glauben immer noch, die Kämpfe der Sechziger und Siebziger führen zu müssen. Dass der Kapitalismus den Tod verdient, dass überall faschistische Gefahr lauert und bald alles wieder in Trümmern liegen werde, zumal, schreiende Ungerechtigkeit, bald alle Menschen, hier und auf der Welt überhaupt, verhungern werden.

Günter Grass und Jürgen Habermas – wenngleich der zuletzt immer stiller – raunen und greinen ja immer noch, Deutschland müsse allen Gefahren wehren. Grass, dieses Orakel mit schwindendem Publikum, wär so gern mehr als ein Dichter mit Nobelpreis, etwa ein Dichter mit echter Macht, zumindest stetem Gehör bei den Mächtigen. So wie er denken viele Empörte, LeserbriefschreiberInnen etwa, die sich über ihr Schriftgut, wie Grass, Luft verschaffen, weil auch sie nur eine Stimme unter vielen sind.

Enzensberger, das ist sein Verdienst, wird gehört; er hat nichts nötig, schon gar nicht Phantasmen, die ihm selbst die Welt verleiden.

JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, Miterfinder des taz.mags 1997, war dessen Autor und Wahrer bis zu dieser Ausgabe