Wo das Lied der großen Western spielte

Der Südosten Spaniens bietet europäische Filmgeschichte zum Anfassen. Einige Ruinen und ein Bahnschuppen mit verblichenen amerikanischen Aufschriften zeugen noch von einer großen Zeit, als europäische und auch amerikanische Produzenten Millionen von Dollars in den Western steckten

Beim Besuch der beschriebenen Orte im spanischen Süden sind Spanischkenntnisse von großem Vorteil. Es wird in der Regel kein Englisch verstanden.Der Bahnhof von La Calahorra („Estación de La Calahorra“) mit den Ruinen von „Flagstone“ liegt circa 5 Kilometer nördlich der Autobahn A 92, Ausfahrt La Calahorra/Charches, und ist mit dem Auto über die Straße nach Charches gut erreichbar. Der Standort der nicht mehr existierenden Station „Cattle Corner“ liegt auf halbem Wege am Bahndamm der stillgelegten Bahnlinie. Näheres ist auch im Internet über Google Earth zu erfahren. Die Gemeinde La Calahorra (900 Einwohner, 1.192 Meter ü. NN) ist Ausgangspunkt für Wandertouren zu Fuß, mit dem Pferd oder per Rad in das Naturschutzgebiet Sierra Nevada mit seinen Korkeichenwäldern und alpinen Regionen. Nähere Information: www.lacalahorra.com (offizielle, spanischsprachige Website der Gemeinde). Sehenswert ist auch die Kleinstadt Guadix (21.000 Einwohner, 915 Meter ü. NN) mit ihren rund 2.000 Höhlenwohnungen und einer interessanten Kathedrale (16. bis 18. Jahrhundert), einst auch Schauplatz einiger in „Mexiko“ spielender Filme. Cowboys, Pferdeverleih, ein Restaurant, Andenkenladen, Kinderpferdewagen, Saloon-Bar, Western-Show – das Filmdorf Western Leone liegt etwa 25 Kilometer nördlich von Almería und ist erreichbar über die Autobahn A 92, Abfahrt Tabernas. Die Zufahrt liegt direkt in einem Kreisel und ist ausgeschildert. Die Anlage ist ganzjährig geöffnet. Nähere Informationen unter www.westernleone.com FOTO: JONKMANNS/LAIF

VON STEFAN HÖPEL

Der Wind pfeift sein ewig gleichförmiges Lied über die einsame Hochebene südlich der andalusischen Stadt Guadix. Von Mai bis Oktober ist die Landschaft im Windschatten der Sierra Nevada völlig vertrocknet. Die Landwirtschaft beschränkt sich auf kleine Parzellen. Ansonsten beherrscht eine Art Steppe aus abgeernteten Feldern den Blick bis zum Horizont. Hier, an einem von niedrigem Gestrüpp bewachsenen Damm einer stillgelegten Nebenbahn nahe der Ortschaft La Calahorra muss 1968 ihr großer Auftritt stattgefunden haben: Die drei Schurken Woody Strode, Jack Elam und Al Muloch in ihren langen gelblichen Staubmänteln, die an einer von Holzbohlen und einem quietschenden Windrad gesäumten Bahnstation auf „Harmonica“ (Charles Bronson) warten. Es ist die berühmte Eingangssequenz von Sergio Leones Epos „C’era una volta il West“ (deutscher Verleihtitel: „Spiel mir das Lied vom Tod“), das weitgehend hier und in der 50 Kilometer südlich gelegenen Wüste von Tabernas gedreht wurde.

Ich stehe breitbeinig im Wind, den aus Deutschland mitgebrachten Cowboyhut tief ins Gesicht gezogen, und schaue in die Landschaft. Der Horizont erweckt – wie im Film – den Eindruck endloser Weite, weil die Hochebene nach beiden Seiten abfällt. Ich stelle mir die berühmte Eingangsszene vor, während ich die ewig herumsummenden Fliegen aus meinem Gesicht zu vertreiben suche. Mir fehlt jedoch der passende Colt, und die Kulissen sind völlig abgeräumt. Wo einst die von Holzbohlen und einem quietschenden Windrad gesäumte Bahnstation „Cattle Corner“ stand, ist nur noch ein schmutziger Schotterplatz. Und noch etwas hat sich hier verändert: Ich entdecke in der Ferne Windräder, Strommasten und mittendrin silbrig schimmernd das neue europäische Solarkraftwerk Andasol. Wo bleibt das Western-Feeling? Aus dem CD-Player des am Feldweg parkenden Mietwagens ertönt wie zum Hohn das Todeslied von Ennio Morricone. Hier kommt kein Zug mehr vorbei, denn die örtliche Bergbaugesellschaft hat ihre – auch für viele weitere Filme genutzte – Nebenlinie vor vielen Jahren aufgegeben und abgebaut.

Nicht weit von mir entfernt steht einsam in der Landschaft der inzwischen stillgelegte Bahnhof von La Calahorra, Zeuge zahlreicher Szenen aus Italowestern, die allesamt im hispanoamerikanischen Südwesten oder gleich in Mexiko spielen mussten. Aus produktionstechnischen Gründen, denn hier im Süden Spaniens konnte auch im sonnig-warmen Winter gedreht werden. Auch Sergio Leone nutzte die Station für mehrere seiner großen Western. „Flagstone“, die Verkörperung einer typischen „boom town“ an der Zivilisationsgrenze des Westens, entstand 1968 in unmittelbarer Nähe mit großem Aufwand. Einige Backsteinruinen und ein Bahnschuppen mit verblichenen amerikanischen Aufschriften zeugen noch von einer großen Zeit, als europäische und auch amerikanische Produzenten Millionen von Dollars in den Western steckten. Doch die Reisenden in den wenigen Triebwagen der spanischen Bahngesellschaft Renfe, die heute diesen trostlosen Ort passieren, interessieren sich dafür kaum. Nur noch Tauben nisten in den verlassenen Gebäuden. Filmfans haben in großen Buchstaben an eine Wand gesprüht: „Viva Leone!“

Als mir die Fliegen des nahegelegenen Schaf- und Ziegenhofes zu lästig werden, mache ich schnell noch ein Abschiedsfoto und fahre zurück auf die Autobahn A 92, die seit einigen Jahren nach Almería führt. Ich passiere La Calahorra, wunderschön überragt von einer alten Festung aus dem 16. Jahrhundert, und schaue noch auf die hoch aufragende Sierra Nevada, deren Hochflächen jetzt im Herbst bereits eine Neuschneedecke bekommen haben. Eine karge Schönheit geht von dieser Landschaft aus – trotz der modernen Infrastruktur. Etwas nördlich von hier im Hinterland drehte Peter Lichtefeld 2005 sein Aussteiger-Melodram „Playa del Futuro“ mit Peter Lohmeyer, Nina Petri, Outi Mäenpää und Hilmi Sözer – nicht ohne einige augenzwinkernde Anklänge an „Spiel mir das Lied vom Tod“.

Tabernas heißt der Ort an der alten Fernstraße Almería–Murcia, dessen Umgebung die einzige echte europäische Wüste anzubieten hat. Eine hübsche Telefonleitung mit alten Holzmasten, die in respektvoller Entfernung daran entlangführt, erinnert bereits an alte amerikanische Filme. Und die Tafelberge mit ihren Schutthalden an den Hängen, nur von wenigen kleinen Büschen bewachsen und von richtigen felsigen Canyons unterbrochen, lassen mein Herz höher schlagen. Das Land der Western-Drehorte. Leone-Land!

„Western-Leone“ – ein etwas schräger Name für eine billige kleine Filmstadt, die sich bei näherem Hinsehen als das Grundstück der berühmten „Sweetwater-Farm“ aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ entpuppt. Mein Mietwagen fährt von der nahen Autobahn nach Almería herunter und findet sich schnell auf einem holprigen Feldweg wieder, der an einem Kassenhäuschen vorbei direkt auf das skurrile Gelände führt. Ich bezahle bei einem jungen Angestellten, der sich fürchterlich zu langweilen scheint. Es ist wirklich nichts los hier. Ich bin der einzige Kerl auf dem Platz. Der Wind trägt Fetzen von Filmmusiken herüber, von riesigen Verstärkern verzerrt.

Beim Rundgang durch die Budenstadt entdecke ich schnell das frühere Hauptgebäude der Farm, errichtet aus massivem rötlichen Holz. Wir kennen noch die Szenen, in denen Claudia Cardinale in der Rolle der Witwe Jill McBain das Haus nach dem Massaker an ihrer angeheirateten Familie in Besitz nahm und im Laufe des Films Besuch von drei verschiedenen Männern erhielt, deren Schicksal sich hier entschied.

Heutzutage hängen gelangweilte „Cowboys“ mit osteuropäischem Akzent herum und bieten den Touristen an, auf eines ihrer Pferde zu steigen. Meine braunen Motorradstiefel plus mein bereits erwähnter Stetson-Verschnitt auf dem Schädel müssen für einen Ritt über die „main street“ ausreichen. Ich zahle acht Euro, schnappe mir einen der Gäule und reite begleitet von einem redseligen Angestellten mit finsterem Blick los. Vorbei an schreiend bunt bemalten Holz-„Häusern“ und mexikanisch anmutenden Buden aus weißem Gips geht es hinaus in die Wüste. Allerdings endet der Ausritt schon nach zweihundert Metern an einem Maschendrahtzaun. Der Mitarbeiter erklärt mir mit freudiger Miene, dass sich hinter dem Zaun das Drehgelände „El Fuerte“ eines anderen Eigentümers befindet. Bin ich im Freilichtmuseum?

Mit der Nachmittagssonne im Rücken passieren wir noch den Geländeeinschnitt, den Sergio Leones Produktionsteam hier 1968 graben ließ, um eine eigens per Tieflader hierher geschaffte Dampflok samt Waggons für die berühmte Schlussszene auf der neu angelegten Bahntrasse zur Sweetwater-Farm fahren zu lassen. Zu dumm, dass die spanischen Straßenbauer auf diesen historischen Ort so wenig Rücksicht genommen haben und mitten durch diese europäische Filmlandschaft die Autobahn Almería–Granada bauen mussten! Ich stelle mir den denkwürdigen Auftritt des bezahlten Killers Frank (Henry Fonda) und seiner Revolverhelden vor, die hier einst über den Hügelkamm geritten kamen. Franks Bande wäre heutzutage vermutlich nie angekommen, denn der unablässige Verkehr hätte sie an ihrem Morden gehindert …

Immerhin: Ein Hauch von großer Westerngeschichte umweht diesen filmhistorisch so bedeutsamen Platz in der Wüste von Tabernas, auf dem ich reiten durfte und den ich mit etwas Wehmut wieder verlasse. Vorbei an zwei weiteren Westerndörfern in der nahen Umgebung (eines dient immer noch für Filme, z. B. „Der Schuh des Manitu“) fahre ich Richtung Mittelmeer, um mich im beschaulichen Naturschutzgebiet Cabo de Gata zu erholen. Aber das ist wieder eine andere Reisegeschichte …