„Ich wollte doch nur, dass er aufhört“

Tanja K. hatte Zahnschmerzen. Ihr drei Monate alter Sohn Maurice hörte nicht auf zu schreien. Sie schüttelte ihn, dann wurde er still – und starb

Das Kind schrie, es schrie und schrie. Maurice, drei Monate alt, hatte einen empfindlichen Magen. Der Vater Thomas war nicht da, 15 Stunden täglich außer Haus, um als Rüster der Familie das finanzieren zu können, was den Sozialdienst später davon abhalten wird, etwas zu unternehmen: die geräumige Wohnung mit Balkon, den Eisschrank, die Waschmaschine. Die Mutter Tanja K. hatte Zahnschmerzen auszuhalten, ohne Schmerzmittel wegen Allergie, der Zahn konnte nicht gezogen werden, weil sie den Mund nicht aufbekam, alles war geschwollen. Das sollte das Anitbiotikum ändern, von dem ihr auch noch schlecht wurde. Keine schöne Situation. Und das Kind schrie.

Vor der Polizei sagte Tanja K.: „Auch wenn er mich genervt hat, es ist doch so ein kleiner Mensch.“ Im Prozess gestern vor dem Berliner Landgericht in Moabit sagte sie: „Ich wusste doch nicht, warum er schreit. Ich wollte doch nur, dass er aufhört zu schreien.“ Damit es doch endlich Ruhe gebe, hat sie dem Baby das Bein gedreht. An dem Oberschenkelbruch ist das Kind aber nicht gestorben. Gestorben ist es erst, nachdem es im Krankenhaus war, nachdem es dort mit Salmonellen infiziert wurde, nach Operationskomplikationen und einer weiteren Operation, nachdem es nach Hause kam, noch mehr schrie und die Mutter das Kind ständig auf dem Arm trug, weil das das einzige Mittel war gegen das Schreien. Das schlechte Gewissen zerrte zusätzlich an ihren Nerven. Noch einmal: „Ich wollte, dass er aufhört mit Schreien.“ Sie schüttelte das Kind, der Kopf schleuderte haltlos hin und her. „Das kann auch mal gut gehen, wenn man das macht, das ist einfach Schicksal“, zitiert der Richter ärztliche Expertise. Im Fall von Maurice K. ging es nicht gut. Das Kind wurde „wie ohnmächtig“, die herbeigerufene Feuerwehr ließ 20 Minuten auf sich warten. Sechs Tage später starb es. Am Tag der Beerdigung wurde Tanja K. festgenommen.

Der Richter arbeitet im Prozess nach und nach den Vorsatz zur Körperverletzung heraus. Tanja K. habe doch gewusst, dass ein Baby mit seinen weichen Knochen schwer verletzt werden kann, wenn man das Bein dreht. Man habe ihr doch erklärt, dass sie das Köpfchen halten müsse, wenn sie das Baby hochhebe, dass also Schütteln auf keinen Fall gut sein könne. Im Fall einer Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge betrüge die Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahre.

Trotzdem scheint auch ein wenig Verständnis durch. „Ein Schreikind“, sagt der Richter, das hatten die Ärzte im Krankenhaus attestiert, und auch die Schwestern seien von dem Geschrei sehr in Anspruch genommen gewesen. „Sie wollten es schaffen und haben es einfach nicht geschafft“, sagt der Richter. Er ist ein väterlicher Berliner Typ.

Tanja K. ist nicht die Sorte von Müttern, die er normalerweise in Kindestötungsfällen vor sich hat. Sie ist nicht verwahrlost, „die Wohnung sieht ja sehr ordentlich aus“, sagt er vier Mal und fast erstaunt, als er die Fotos begutachtet und: „Irgendwann braucht man auch mal eine Ruhepause.“ Das Urteil fällt frühestens in zwei Wochen.

MAREKE ADEN