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Ans Licht erinnern

Früher ging es um den Erhalt von Arbeitsplätzen, heute geht um die Pflanzung von Rotdornbäumen: Neue Bücher über „die kleine Welt“ zwischen Warschauer Brücke und Stralauer Halbinsel, heute auch Oberbaum-City genannt

Das Wohn- und Industriegebiet zwischen der Warschauer Brücke und der Stralauer Halbinsel bzw. den Gleisen der Niederschlesischen Eisenbahn und dem Osthafen an der Spree heißt „Oberbaum-City“ – seitdem die letzten Produktionsstätten des Berliner Glühlampenwerks (erst Osram und dann Narva genannt) zu Büros umgebaut wurden und die Kühlspeicher am Osthafen zu Musikkonzernzentralen. Zu DDR-Zeiten und auch noch danach artikulierte sich hier vor allem die Produktion, wobei es erst ständig um ihre Erweiterung und Modernisierung ging und am Ende um den Erhalt wenigstens der letzten Arbeitsplätze „im Licht“, wie die Narva-Arbeiter sie nannten.

Nach ihrer endgültigen Abwicklung wurde der Narva-Lichtturm, in dem sich die Lampenprüfabteilung befand, zur Firmenzentrale von Pixelpark umgerüstet – und man sprach von „Narva-City“. Von hier aus wurde jedoch nur noch kurz Betriebsgeschichte geschrieben: Als die Praktikanten in diesem New-Economy-Projekt aufgrund seiner überraschenden Liquidation plötzlich auf der Straße standen, verfassten sie ein Buch über das „Scheitern“, dessen Veröffentlichung die taz sponsorte. Seitdem hört man nur noch was aus dem dortigen Wohnbezirk, wobei die Geschichten zumeist im Umkreis des „Stralauer Kiezladens RuDi“ entstehen. Seit zwei Jahren gibt es dort auch ein Kiez-Onlinemagazin mit dem Titel „Kultstral.de“. Diese beiden Einrichtungen übernahmen jüngst die Herausgabe des letzten Werkes des letzten Pressesprechers von Narva. Es heißt „Das BGW“ und sein Autor ist Horst Liewald: Er war zuvor zwanzig Jahre lang wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Narva gewesen. Jetzt ist er Rentner – und wohnt dort: im Kiez O17 (nach heutiger Postleitzahl: 10245). Sein Buch kann man in „RuDis Kiezladen“ käuflich erwerben.

Gleiches gilt für eine neue „Biografie“ dieses Stadtteils – mit dem Titel: „East Side Story“. Der ebenfalls pensionierte Autor Martin Wiebel war Fernsehdramaturg und Filmproduzent, zuletzt Filmprofessor in Ludwigsburg. Er hatte nach der Wende in der Rotherstraße das Haus seines Großvaters wieder erworben – und wollte von dort aus eigentlich einen Film über diesen Stadtteil rund um den Rudolfplatz, den seine Vorfahren einst mitbegründeten, drehen. Daraus wurde dann jedoch ein Buch. Wiebels üppig illustrierte „East Side Story“ umfasst auch die Geschichte des Berliner Glühlampenwerks – vom Anfang bis zum Ende, die Bombardierung des Viertels, den Wiederaufbau, den 17. Juni 1953 und etliche „Erinnerungsspaziergänge“ mit Alteingesessenen. Der Autor zog erst dorthin, als nicht nur das BGW, sondern auch die Schichtarbeiterkneipe „Zur Glühbirne“ schon verschwunden waren, dafür gibt es nun in seinem Buch ein Kapitel über die an ihrer Stelle entstandene „Oberbaum City“, die er „Berlins Upper East Side“ nennt – und „ein gesellschaftliches Modellquartier“. Wozu nicht nur bereits die Mustersiedlung seines Großvaters beitrug, sondern auch die heutigen Aktivitäten des Enkels rund um den Rudolfplatz. Wiebel gründete am 8. Mai 1999 eine „IG Eigentümer und Verwaltungen“, die z. B. gegen die Schließung der Grundschule und die Errichtung einer Sondermüllanlage der BSR kämpfte und die Rotherstraße mit Rotdornbäumen bepflanzte.

In gewisser Weise gehört auch seine Stadtteil-„Biografie“ zu diesen Aktivitäten, die er „als geordnete Materialsammlung aus betroffener Sicht“ zu lesen empfiehlt – in der Hoffnung, dabei „die wieder erwachte Liebe des Autors zum Wohnquartier seiner Vorfahren mitempfinden“ zu können: „diese kleine Welt“ zwischen der Oberbaumbrücke und der Rummelsburg. Letzteres war laut Wiebel zuerst ein Waisenhaus und dann ein Stasi-Gefängnis – und wurde schließlich abgewickelt zu einem Drehort des neuen gesamtdeutschen Films. „Es ist sicher kein Zufall,“ schreibt er, „dass inzwischen renommierte Maler wie Markus Lüppertz und Corinna Wasmuth hierhergezogen sind, wo die Szene (noch) nicht ist. Auch Jungfamilien entdecken die Gegend mit einem Kita-Angebot ohnegleichen und einem Rudolfplatz in der Mitte …“

Die Veröffentlichung der „East Side Story“ wurde vom „Kleinen Urban-Fonds“ gesponsort, die Interviews darin führte Martin Wiebel zusammen mit Anne-Katrin Ebert – für ihre Arbeit: „Der Stralauer Kiez in der sprechenden Erinnerung seiner BewohnerInnen“. Nun gehört Wiebel selbst dazu – und sammelt alte Erinnerungsstücke aus Kellern und Dachböden. HELMUT HÖGE

Martin W. Wiebel: „East Side Story“; Horst Liewald: „Das BGW“. Beide im Stralauer Kiezladen RuDi, Am Rudolfplatz 5, Friedrichshain. Infos zum Buch „Scheitern“ unter www.scheitern.de

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