Gepflegte Gebrechen

Kranksein allein genügt nicht – stilvoll sollte es schon auch noch sein

Jede übertriebene Leidensmiene und -äußerung ist unbedingt zu vermeiden

Wer ist schon gerne krank? Kein Mensch. Das liegt in erster Linie daran, dass wir uns grippalen Infekten, stumpfen Sportverletzungen oder Darmverwirrungen, beziehungsweise ihren Symptomen, meist willenlos überlassen und dabei auch noch die Gewissheit pflegen, Kranksein sei unattraktiv und einschränkend. Ganz falsch! Schließlich verfügen die allermeisten Gebrechen über ein hohes Gestaltungspotenzial. Es geschickt zu nutzen, statt klaglos zu leiden, garantiert, dass der kranke Mensch auch bekommt, was er will und braucht: Mitleid, Zuwendung, Dispens von unliebsamen Aufgaben und vor allem seinen Willen. Das alles möchte und braucht natürlich auch der nichtkranke Mensch, weshalb die folgenden Ausführungen gerade auch für Kerngesunde, die diesbezüglich etwas nachbessern wollen, unbedingt zu empfehlen sind. Eigentlich vor allem für sie. Bereits Erkrankte passen jetzt einfach schön auf und ziehen dann ihre Schlüsse.

Um den gestalterischen Rahmen des Krankseins bestmöglich nutzen zu können, muss zunächst die richtige Erkrankung ausgewählt werden, je nach dem, was man will oder braucht (s. o.). Danach entscheidet man sich für ein Leiden aus den beiden Hauptkrankheitsgruppen anmutige und gründliche Gebrechen. Es erschließt sich sofort, dass man sich für einen Zugewinn an Mitleid und Zuwendung in der ersten Gruppe umschaut; seinen Willen oder den Dispens von unliebsamen Aufgaben erreicht man dagegen eher mit handfesten Krankheitsbildern aus der zweiten Gruppe. Als oberste Faustregeln vorweg gilt: Stilvolles Kranksein hat nichts mit Hypochondrie zu tun, deshalb ist jede übertriebene Leidensmiene und -äußerung unbedingt zu vermeiden. Stilbildend wirkt hier einmal mehr Harald Schmidt. Sehen Sie sich zu Trainingszwecken doch einmal an, wie lässig er „dieses lähmende Gefühl in den Armen“ inszeniert. Zu den anmutigen Gebrechen zählen alle Arten innerer Beschwerden, gerne unbestimmt, unbedingt aber unsichtbar. Also Verspannungen, Kopfschmerzen, Völlegefühl, Schwindel, Verstimmungen oder gelegentliche Herzinsuffizienz. Aber auch Heiserkeit kann durchaus etwas Charmantes haben.

Das anmutige Gebrechen will mit feiner Hand in Szene gesetzt werden, weniger ist hier immer mehr: Sie sind ermattet statt erschöpft, Sie seufzen, statt zu stöhnen. Ewig Rotbackige, denen das in diesem Zusammenhang eigentlich unabdingbare Ätherische fehlt, erklären ihre gesunde Gesichtsfarbe am besten mit unerklärlichen Hitzewallungen. Genießen Sie die angebotenen Massagen, Dienstleistungen und besorgten Gesichter, aber tun Sie dies nie zu offensichtlich!

Bei den gründlichen Gebrechen ist fast noch mehr Fingerspitzengefühl gefragt, obwohl einige von ihnen durchaus sichtbar sein können – Verbände! Augenklappen! Kopfwickel! – und ostentativer vorgetragen werden dürfen. Auch hier herrscht eine reiche Auswahl: Gehirnerschütterung, Migräne, Herzrasen, Knieschmerzen, Bewusstseinsstörung, Ausschläge, Schnittverletzungen und schwere Verstauchungen aller Art – Sie sehen, es muss nicht immer Schnupfen sein, wenn man nicht bei einem Umzug helfen, das Auto nicht ummelden oder einfach mal ausspannen will. Bei gründlichen Gebrechen darf ruhig auch mal geröchelt werden, allerdings nicht zu häufig und zu lange.

Noch ein Wort zu den Accessoires. Ob Sie sich nun für ein anmutiges oder ein gründliches Gebrechen entschieden haben, sollten Sie unbedingt immer stilvoll bleiben. Die Zauberformel hierfür lautet: zweckentfremdende Improvisation. Bei sehr gründlichen Gebrechen sind auch einmal Mullverbände erlaubt. Ansonsten sind medizinische Gerätschaften und Materialien unbedingt zu meiden. Kein Mensch, der einen alten Spazierstock hat, muss an Krücken humpeln, die armstützende Dreiecksbinde darf, wie auch das stirnkühlende Tuch und die Augenbinde, ruhig aus Seide sein, genippt wird nach Möglichkeit aus guten Gläsern. Auch ihre Ruhestatt sollte möglichst „gesund“ wirken. Denken Sie immer daran: Sie liegen nicht, Sie lagern. Also eher die Mohairdecke als das Plumeau. All dies verfolgt ein zentrales Ziel: den Sie umsorgenden Menschen Ihren unbedingten Heilungswillen zu beweisen. Solange das gelingt, können Sie solange krank bleiben, wie Sie wollen. Und Ihren Willen kriegen.

PS: Allen, die es ernsthaft erwischt hat und die derzeit mit entstellenden Rotznasen, Halsentzündungen oder Herpes durch die Gegend laufen: Staubmaske auf und gute Besserung!BARBARA HÄUSLER