Amerikanische Außenpolitik von unten

Im Rahmen der Kampagne „the people speak“ diskutieren tausende Amerikaner die Rolle ihres Landes in der Welt

WASHINGTON taz ■ Lynne Slawsky hatte sich extra einen Tag lang vorbereitet. Nun steht die zierliche Frau im grauen Hosenanzug am Rednerpult im kleinen Konferenzsaal des Center for Strategic and International Studies in Washington. Alle 60 Plätze im Raum sind belegt. Fünf Minuten hat sie Zeit, um darzulegen, warum sie die Doktrin vom Präventivkrieg ablehnt. Wie eine Anwältin hält sie ein leidenschaftliches Plädoyer für multinationale Konfliktlösungen. Neben ihr sitzen fünf Mittzwanziger auf einem Podium, hören sorgfältig zu und machen sich Notizen. Ein Signal ertönt. Die Redezeit ist zu Ende.

Shawn Powers, ein junger Mann aus Illinois, tritt ans Mikro und versucht, die Argumente seiner Vorrednerin zu entkräften. Wieder der Ton. Danach folgen noch zwei Pro-und-Contra-Paare zu der Frage, wie die USA den Streit mit Nordkorea lösen und ob sie dem Internationalen Strafgerichtshof beitreten sollen, bevor die Diskussion für das Publikum eröffnet wird.

„Amerika debattiert seine Rolle in der Welt“ hatten die Veranstalter der bekannten Washingtoner Denkfabrik getitelt. Doch es handelte sich nicht um einen der üblichen Diskurse hochkarätiger Politikgurus, sondern um die landesweite Kampane „The People Speak“. Den ganzen Oktober hindurch trafen sich Menschen in Rathäusern, Kirchen, Schulen, Universitätssäalen, Kneipen und Parks, um öffentlich über die Zukunft der US-Außenpolitik zu diskutieren. Das Projekt wurde von der UN-Foundation und 15 anderen amerikanischen Stiftungen ins Leben gerufen. Rund 2.200 Veranstaltungen wurden gezählt, mehr als doppelt so viel, wie die Initiatoren geplant hatten.

„Die Resonanz war überwältigend“, sagt Laura Rogers, von der UN-Stiftung, deren Gründer CNN-Milliardär Ted Turner ist. „Amerikaner sind weniger ignorant gegenüber ihrer Außenwelt als zumeist dargestellt.“ Slawsky ist jedoch frustriert über die politische Apathie vieler ihrer Freunde. In Ohio, wo die 23-Jährige aufgewachsen ist und studiert, gelte Politik vor allem unter jungen Leuten als schmutziges Geschäft. „Der Debattier-Club in der Schule war eine Ausnahme.“ Ihr Zuhause sei prägend gewesen, da sie mit ihren Eltern ständig über Politik gestritten hätte. Jetzt genießt sie das überpolitisierte Washington, wo sie ein Praktikum bei einer Organisation für Armutsbekämpfung macht und jeder Taxifahrer seine Kunden in nicht enden wollende Zwiegespräche über Krieg und Frieden verwickelt.

Der Irak-Krieg hat zweifelsohne die Aufmerksamkeit vieler Amerikaner verstärkt auf die Außenpolitik gelenkt. Dennoch seien die neuen Herausforderungen im Kampf gegen den internationalen Terror und die Tragweite amerikanischen Handelns in der Welt seit dem 11. September im öffentlichen Bewusstsein der meisten Menschen noch nicht angekommen, so die Erkenntnis der Initiatoren zu dem bisher einmaligen Projekt in der US-Geschichte. „Eine öffentliche Debatte war und ist überfällig“, sagt Timothy Wirth, Direktor der UN Foundation. „Die Auseinandersetzung über unser weltweites Engagement ist seit dem Ende des Kalten Krieges notwendiger denn je.“ MICHAEL STRECK