„Die Perspektive dreht sich“

In Leipzig und Dresdenist man flexibler – und damit den Westdeutschen überlegen

Interview HANNES KOCH

taz: Herr Beck, sind die Ostdeutschen – soweit man verallgemeinern darf – lebenstüchtiger als die Westdeutschen, weil sie nicht nur ein, sondern zwei Gesellschaftssysteme aus eigenem Erleben kennen?

Ulrich Beck: Wer den Untergang der DDR mitgemacht hat, kann seine Erfahrungen auf heute übertragen. Wir erleben ja gerade so eine Art DDRisierung Gesamtdeutschlands. Die alten Institutionen, die im westdeutschen Selbstverständnis fest verankert sind, werden plötzlich in Frage gestellt. Der Sozialstaat funktioniert nicht mehr so wie früher, die Alterung der Bevölkerung macht die Verteilung des Wohlstands schwieriger.

Die Ostdeutschen kennen die Krise schon länger, die nun die Westdeutschen quasi im Schlaf überrascht?

Die DDR war schon früh mit ihrem eigenen Scheitern konfrontiert. Man wusste, dass alles nicht mehr funktionierte. Die DDR-Bürger praktizierten eine Informalisierung ihrer Beziehungen, sie lebten in Schattenexistenzen. Alles musste gegen die formalen Zuschreibungen, gegen den Plan informell geregelt werden.

Sie meinen, dass DDR-Bürger etwa immer zwischen den Zeilen lesen mussten, um die notwendigen Informationen zu erhalten?

Ja, es gab eine Art informelles Tauschsystem für das alltägliche Überleben. Die meisten Leute wussten, wie sie sich hintenrum Baumaterial, Autoersatzteile oder Bücher beschaffen konnten. Die DDR-Bevölkerung hat gelernt, ein formales System permanent zu brechen. Die Leute waren Künstler des Informellen.

Und die Westdeutschen?

Die sind viel stärker Vorschriften-Menschen. Dort gibt es klare Modelle, die umgesetzt werden müssen. Aber die funktionieren immer seltener. Die Zahl der traditionellen, hoch formalisierten Arbeitsverhältnisse zum Beispiel sinkt, und die deregulierten Jobs nehmen zu.

Weil die Ostdeutschen schon immer zwischen einer formellen und einer inoffiziellen Welt wechselten, fällt es ihnen also heute leichter, zwischen unterschiedlichen Lebenssituationen zu surfen?

Ja, damit kommen Menschen, die das immer schon eingeübt haben, viel leichter zurecht. Sie sind auch besser darauf eingestellt, was im Weltmaßstab auf uns zukommt. Die gesamte Entwicklungsperspektive dreht sich um. Nicht die Länder des Südens gleichen sich immer mehr den Ländern des Nordens an, sondern umgekehrt.

Die Dritte Welt in der Ersten Welt?

In Brasilien war der Gedanke noch nie sonderlich verbreitet, dass man durch immer mehr Modernisierung Vollbeschäftigung schaffen kann. Im Gegenteil: Der Minijob ohne jede Absicherung ist dort Gegenwart und Zukunft für die meisten Menschen. Auch in Afrika ist das so. Und allmählich kommt der Süden zu uns. Wir führen hier oft eine Debatte, die die Welt aus dem Blick verliert.

Sind die Ostdeutschen Einwohner eines Dritte-Welt-Landes?

Nein, aber die DDRisierung hat etwas zu tun mit der Brasilianisierung. Über ein Drittel der Jobs in den neuen Ländern sind heute schon Nicht-Norm-Arbeitsverhältnisse.

Was ist ein Nicht-Norm-Arbeitsverhältnis?

Zum Beispiel befristete Jobs, Teilzeit mit oder ohne Sozialversicherung, staatlich geförderte Stellen wie ABM, geringfügige Beschäftigung. Die theoretische Norm ist der Vollzeitarbeitsplatz, der eine Familie ernährt.

Wie hoch ist der Anteil deregulierter Arbeit im Westen?

Dort liegt er bei etwa 20 Prozent. Aber auch dort wächst er. Allein durch die Hartz-Gesetze haben die Minijobs um eine Million zugenommen. Darin erkennen wir die sprunghafte Labilisierung im Osten wie im Westen.

In dieser Hinsicht scheint Ostdeutschland das vorwegzunehmen, was auf Westdeutschland zukommt. Was halten Sie von der These, dass zwischen Elbe und Oder auch für eine Gesellschaft ohne Wirtschaftswachstum geprobt wird?

Was wir im Westen erleben, ist der Wandel von einer Gesellschaft des Mehr zu einer Gesellschaft des Weniger. Viele Menschen müssen ihre Hoffnung aufgeben, dass sie in Zukunft einen besseren Job bekommen, mehr Geld verdienen, mehr Sicherheit haben.

Warum weniger? Es geht nur darum, dass sich der Zuwachs nicht mehr so schnell einstellt wie früher. Die Wachstumsrate sinkt, doch sie wird auch in den nächsten 20 Jahren durchschnittlich 1,5 Prozent pro Jahr betragen. Unsere Gesellschaft wird weiter immer reicher.

Aber die Verteilung polarisiert sich. Das heißt für viele: Es wird weniger. Auch weniger Sicherheit. Selbst mit guter Bildung hat man nicht mehr die Garantie, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu bekommen. Die westliche Gesellschaft tut sich sehr schwer damit, umzuschalten vom selbstverständlichen Mehr zum selbstverständlichen Weniger. Auch das fällt im Osten leichter – weil man dort von einem niedrigeren Niveau ausgeht, verspüren die Menschen den materiellen Verlust nicht so stark wie im Westen.

Wer sich die trostlosen brandenburgischen Dörfer im Oderbruch ansieht oder die hohe Zahl rechtsextremer Gewalttaten in Sachsen und Thüringen, hegt Zweifel an der Einschätzung, dass Ostdeutschland ein Modell der Krisenbewältigung darstellt.

Das ist sehr ambivalent. In mancher Hinsicht ist Ostdeutschland die Zukunft. Insgesamt halte ich die Bereitschaft, neue Lösungen zu akzeptieren, dort für größer als in den alten Bundesländern.

Dagegen sind die Ostdeutschen viel weniger bereit zur inneren Globalisierung. Die Notwendigkeit, sich für Fremde zu öffnen, wollen sie mehrheitlich nicht akzeptieren.

Bisher haben wir über Ostdeutschland eher als Labor gesprochen, in dem neue Entwicklungen virulent werden. Gibt es denn dort auch modellhafte politische Lösungen, die sich exportieren ließen?

Die Zentren Leipzig und Dresden können durchaus mit den USA konkurrieren. Weil man dort flexibler und damit den Westdeutschen überlegen ist.

Die Menschen in der DDR waren schon früh mitihrem eigenen Scheitern konfrontiert

Das sind die großen Ausnahmen.

Trotzdem gibt es dort Erfolgsrezepte für den Osten, wie auch für den Westen.

Hat der Osten den Westen doch noch überholt, ohne ihn einzuholen, wie ein alter DDR-Slogan lautete?

In den beiden Regionen existiert eine Mischung aus innovativen Unternehmen, flexiblen Arbeitsplätzen mit geringer gewerkschaftlicher Regulierung und einer hohen Breitschaft, etwas zu riskieren. In gebe Ihnen ein anderes Beispiel für das, was ich meine: Mein Versuch, ehrenamtliche Bürgerarbeit im Westen populär zu machen als eine Ergänzung zur Normalarbeit, ist daran gescheitert, dass einfach zu viele Ideen schon besetzt sind. Will man eine Armenküche aufmachen, kommt irgendein Verband oder ein Altenheim oder der Gaststättenverband und sagt: „Das nimmt uns die Kunden weg.“ Alles ist organisiert und formalisiert. Jede Ecke ist schon mit Ansprüchen besetzt – ein Nachteil des bisher erfolgreichen korporatistischen Systems.

Der Osten könnte also ein Modell für den modernen Kapitalismus hergeben, weil er anarchischer ist. Was haben die Leute in Rostock und Sömmerda denn zu Ihrer Idee der Bürgerarbeit ohne existenzsicherndes Einkommen gesagt?

Das war ein Reinfall. Dort hat man das immer als bloße Ersatzideologie für die Erwerbsarbeit betrachtet, als schäbige Alternative.

Ein positiver Umgang mit der arbeitslosen Gesellschaft, in der die Produktivkraft von Millionen Menschen überflüssig ist, zeichnet sich nicht ab?

Nein. Das ist die eine große Gemeinsamkeit in Ost- und Westdeutschland. Die Erwerbsarbeit gilt als Kern der persönlichen Identität. In Großbritannien und den USA ist das anders. Dort können auch zivilgesellschaftliche Aktivitäten den Schlüssel zum Selbstbewusstsein bilden. In dieser Hinsicht sind wir ein Entwicklungsland.

In 30 bis 40 Jahren könnten Arbeitskräfte wieder knapp werden. Verlässt sich die politische Elite nicht schlicht darauf, dass der gesellschaftliche Alterungsprozess das Problem der Erwerbslosigkeit von ganz alleine erledigt – indem die Arbeitslosen von heute aussterben?

Das wäre eine ausgesprochen defizitäre Lösung. Unsere Reformdiskussion dreht sich immer um Abbau, aber nicht um Aufbau. Es fehlt die Perspektive einer neuen Spezialisierung Deutschlands in der internationalen Arbeitsteilung, die den Export von Schwermaschinen ersetzen könnte. Auch aus Ostdeutschland heraus kann man kaum eine positive Zukunftsperspektive erkennen – von wenigen Ausnahmen abgesehen. In Regionen wie Leipzig und Dresden sind Globalisierungskerne entstanden. Dort kann man lernen, wie man durch transnationale Kooperation eigene Macht entwickelt und auch ein eigenes Profil, eine eigene Identität.