Ostler im Spaltungsirrsinn

von MICHAEL BARTSCH

„Wir haben den Prozess der deutschen Vereinigung […] im Wesentlichen auf eine ökonomische und finanzpolitische Dimension reduziert. […] Aber hier sind Menschen auf der Suche nach ihrer neuen Identität – wie sie jetzt leben sollen, was der Lebenszweck sein soll.“ Kurt Biedenkopf versuchte schon zehn Jahre vor dem Soziologen Wolfgang Engler zu suggerieren, das absehbare materielle Zurückbleiben der ostdeutschen Beitreter sei eine kulturelle Chance. Haben wir schon keinen Porsche im Stall, so sind wir doch wenigstens die besseren Menschen!

Etwas von der erzwungenen Bescheidenheitskultur der verblichenen DDR schwang da mit, von den emotionalen, künstlerischen, kollektiv wärmenden Alternativen und Ventilen. Und haben wir nicht tatsächlich in den Tagen nach dem 9. November 1989 nur mal besoffen am Westen geschnuppert, um dann wieder brav an Tisch und Bett und Arbeitsplatz zurückzukehren?

Biedenkopf setzte, frei nach Fromms „Haben oder Sein“, auf ein immaterielles ostdeutsches Sein: auf den regionalen Sachsen-Mythos, auf Anpassungs- und Leidensfähigkeit einerseits und Widerstandskraft andererseits, auf die Tugenden der „Kleinen Lebenskreise“.

Bis heute wird ein Ossi-Idealtypus beschworen, den es vermutlich nie gegeben hat und der spätestens im D-Mark-Taumel von 1990 unterging – man erinnere sich nur an die Leipziger Olympia-Präsentation vom April in München. Hatten wir nicht über 40 Jahre heldenhaft unseren Goethe praktiziert, den und die Faust in der Tasche? „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.“ Also weiter so!

Hinter den Appellen Wolfgang Englers steckt im Grunde der gleiche, eigentlich neutestamentarische Samenkorn-Gedanke der kleinen Schar: Man muss vermeintliche Defizite nur als Vorzug begreifen. Und der erzwungene Ausschluss vom täglichen Wahnsinn Arbeit könnte Gelegenheit für mehr selbst bestimmtes Leben geben. Hartz und Agenda 2010 dürften die Illusion endgültig zerstört haben.

Der Blick des DDR-geprägten Ossis nach Westen hat darum heute etwas Schizophrenes. Sein Selbstbewusstsein wird im Durchschnitt nämlich gerade nicht von vermeintlichen Tugenden, von der Fähigkeit zu basteln, zu leiden oder feste feiern zu können bestimmt. Schon die DDR-Führung sah sich stets zu Konzessionen an die westliche Unwerteskala genötigt, die offenbar eine anthropologische Konstante ist und sich auf die simple Formel reduzieren lässt: „Haste was, biste was.“

Die Frage, wann die Ostdeutschen endlich das Trauma vom „Deutschen zweiter Klasse“ ablegen, kann darum auch erst nach Lohnangleichung, Vermögensbildung und sozialem Aufstieg beantwortet werden. Das Privileg, mehr als nur sein Existenzminimum selbst erarbeiten zu dürfen, bleibt angesichts der Arbeitslosenzahlen ebenfalls ein westdeutsches.

Geht der Blick einmal über die privaten Lebensverhältnisse hinaus, ist zuerst, trotz sichtbarer Fortschritte in der Infrastruktur, von Konsum die Rede. Geht es um Konto, Haus und Shopping, setzt der Westen weiterhin die Maßstäbe. Mental aber wird der damit verknüpfte westliche Lebensstil tendenziell abgelehnt. Man erliegt den Versuchungen der schönen Dinge einerseits, wehrt sich andererseits gegen die geradezu totalitäre Dominanz des Geldes. Die erstaunliche Popularität mieser Ostalgie-Shows kommt nicht von ungefähr.

Ein Sonderforschungsbereich der Universität Jena befasst sich etwa mit Trends in der „Zonenkinder“-Generation, Verwestlichung oder Amerikanisierung abzulehnen. Und im letzten Sozialreport des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg heißt es, nur jeder fünfte Ostdeutsche fühle sich als „richtiger Bundesbürger“. Dieses Gefühl der Fremde geht einher mit der Ernüchterung über das realdemokratische Staatswesen der Bundesrepublik.

Anlässlich der „Orestie“-Premiere am Dresdner Staatsschauspiel wurde in den Pausen auf den Gängen eine Videodokumentation von den Proben gezeigt. Darin wurden 33 normale Bürger der Stadt, die im griechischen Chor singen, nach ihren Demokratieerfahrungen befragt. Die Urteile reichten von „Diktatur der Marktwirtschaft“ über „schöne Illusion“ bis zur Selbstkritik mangelnden Beteiligungswillens. Sie sehen die gewonnenen Freiheiten nicht als Errungenschaft, sondern als früher vorenthaltene Selbstverständlichkeit.

Nur an eines wird man sich im Osten nicht gewöhnen: an das Gefühl, ein Enfant perdu, wieder nur die DDR, „Der doofe Rest“, zu sein. Unser Denken ist auf Expansion, auf Wachstum, auf Quantität getrimmt. Appelle an vermeintliche moralische Überlegenheiten der kleinen, aber feinen Herde helfen da wenig.