„Ich bin eine Kübelpflanze“

Elisabeth Naumann

„Ob in Indien oder Persien – der Kiosk war ein Gebäude für die Herrschenden. Dort traf sich die Gesellschaft. Untertanen hatten da keinen Zutritt.“ „Nach vier Semstern Gerontologie wusste ich, was mir mit 80 Jahren und mehr passieren könnte. Ich fand, es sei Zeit, noch etwas Neues zu machen: Soziologie“

Sie ist ihr Leben lang zur Schule gegangen. Erst in Bad Wildungen, dann in Marburg, zuletzt in Berlin. Dabei wollte Elisabeth Naumann eigentlich studieren. Nach ihrer Pensionierung als Schuldirektorin hat sie das nachgeholt. An der FU Berlin hat sie zuerst vier Semester Gerontologie studiert und ist dann auf Soziologie umgeschwenkt. Vier Jahre und über 100 Currywürste später hat sie eine Dissertation über die Geschichte des Kiosks geschrieben. Ihre Arbeit ist gerade als Buch erschienen: „Kioske. Entdeckungen an einem alltäglichen Ort“. Ach so, Dr. Elisabeth Naumann ist 80 Jahre alt. Aber wir wollen nicht darauf herumreiten, sondern lieber reden über Straßenmöbel und Lustpavillons

Interview JAN ROSENKRANZ
und ULRICH SCHULTE

taz: Guten Tag, Frau Naumann. Tolle Idee, sich am Kiosk zu treffen. Es regnet.

Elisabeth Naumann: Ja, eine schöne Idee. Diese beiden, Uhlandstraße Ecke Ku’damm, sind übrigens meine Lieblingskioske – sie stammen aus dem Jahr 1923, meinem Geburtsjahr.

Beginnen wir mit der Theorie. Wie lautet ihre Definition von Kiosk?

Ein Kiosk ist ein kleines Verkaufshäuschen, das nicht begehbar ist und in der Regel frei steht.

Also gibt es in der Ladenzeile keinen Kiosk im klassischen Sinne?

Richtig, ich bin nur gelegentlich davon abgewichen. Das liegt an der Geschichte des Kiosks. Er hat seinen Ursprung im Orient und war ein frei stehendes Gartenhäuschen, später, im Osmanischen Reich auch in Verbindung mit anderen Hofbauten. Er war – wie auch in Indien oder Persien – ein Gebäude für die Herrschenden. Untertanen hatten da keinen Zutritt.

Der Untertitel Ihrer Dissertation lautet: Vom Lustpavillon zum Konsumtempel. Welchen Lüsten frönte man denn früher?

Zunächst traf sich die höfische Gesellschaft darin. Es wurde da wohl auch etwas gegessen, getrunken oder Wasserpfeife geraucht, keineswegs aber wurden Currywürste gegessen.

Was ist das Besondere am Berliner Kiosk?

In Berlin hat er eine lange Tradition. Zu Beginn der Industrialisierung konnten die Fabrikarbeiter mittags zum Essen nicht mehr nach Hause gehen. Kleinverkaufshäuschen kamen in Mode, meist einfache Bretterbuden, die Sodawasser, auch mal Soleier oder Kuchen verkauften. Die Antialkoholbewegung unterstützte diese Einrichtungen. Arbeiter wurden ja bis dahin teils mit Alkohol entlohnt. Aber mit der Einführung der Maschinen war das viel zu gefährlich. Außerdem begann der Aufschwung des Pressewesens.

Klar, der Zeitungskiosk.

Genau. Übrigens werden Kioske in Berlin ja auch als Straßenmöbel bezeichnet. Ein Beamter der Baubehörde hat diesen Begriff in der Nachkriegszeit geprägt. Ich fand ihn sehr hübsch. Dazu gehören nicht nur Kioske, auch das berühmte Café Achteck – die Pissoirs –, Litfaßsäulen und sogar Poller und Laternen.

Möbel, das klingt nach Wohnzimmer, nach einem sozialen Ort?

Das sind Kioske auch, gerade in Berlin. Die Großstadt braucht Treffpunkte für Menschen, die allein oder am Rand der Gesellschaft leben. Auch für Ältere.

Sozialen Aspekten geben Sie in Ihrer Arbeit viel Raum. Zitat: „Essende stützen sich häufig, über einen Tisch gebeugt, mit einem oder beiden Ellenbogen auf.“

Das ist nun einmal mein soziologisches Interesse. Wie verhalten sich Menschen in der Esssituation? Frauen nehmen sich weniger Raum als Männer. Ganz selten stützen sie mal den Ellenbogen ab.

Über männliche Esser schreiben Sie: „Oft ist auch eine besondere Beinhaltung zu beobachten: Das Spielbein kreuzt das Standbein, wobei der Spielbeinfuß auf die Fußspitze gestellt wird.“

Diese Beobachtung geht zurück auf eine Untersuchung der Soziologin Marianne Wex. Sie hat diese Pose als typische Freizeithaltung charakterisiert. Ich wollte auch beschreiben, wie sich Menschen am Imbiss zueinander verhalten – welchen Platz sie einnehmen, wo sie hinschauen.

„Wenn kein Tisch zur Verfügung steht, formieren sich kleine Essgemeinschaften um einen fiktiven Mittelpunkt.“

Natürlich, Sie können jetzt sagen, das weiß doch jeder. Man steht in einer kleinen Gruppe und isst. Aber das festzustellen, ist nun mal Aufgabe einer Soziologin. Machen Sie sich bitte nicht lustig darüber.

Überhaupt nicht. Stehen auch Fremde beisammen?

Nur sehr selten.

Die praktizieren dann eher „nichtzentrierte Interaktion am gemeinsamen Tisch“?

Richtig. In Deutschland stellen sich offenbar Fremde nur zueinander, wenn es wirklich gar keine andere Möglichkeit mehr gibt. Ich habe ein Foto, da stehen fünf Männer an je einem Tisch und mampfen vor sich hin. Die Interaktion beschränkt sich auf das Verkaufsgespräch mit dem Kioskbesitzer – es sei denn, es ist ein Trinkertreffpunkt.

Haben Sie Betrunkene während Ihrer Feldforschung angesprochen?

Ich habe eine einzige Erfahrung mit einem Betrunkenen gemacht, als ich am Frankfurter Tor einen Kiosk aufnehmen wollte. Der kam an und drohte: Wenn du mich fotografierst, haue ich dir eine in die Schnauze. Da bin ich schnell gegangen. Nun gut. Kann ich verstehen.

Na ja.

Ich habe dann Menschen gefragt, die mit dieser Klientel zu tun haben. Die Angestellte eines Kiosks im U-Bahnhof Zoo hat mir anrührende Geschichten erzählt von ihren Kunden, die in elenden Verhältnissen leben.

Sie haben im Zuge Ihrer Recherchen hunderte von Currywürsten verspeist. Wie sieht eine gute Wurst aus?

Pralle Haut, ein bisschen angeröstet. Sie darf nicht grau aussehen.

Mit Darm oder ohne?

Lieber mit Haut. Und, natürlich, um sie leichter essen zu können, geschnitten.

Wissen Sie, seit wann das Mode ist?

Das gibt es erst seit etwa 20 Jahren.

Gibt es eigentlich einen Menschentyp „Kioskgänger“?

Es gibt zwei Gruppen: Die einen sagen: Ja, ich find das toll, ich geh da immer hin. Die anderen sagen: Da würde ich nie hingehen. Fügen dann aber meist nach wenigen Sätzen hinzu: Aber wissen Sie, in Reinickendorf, da ist ein Kiosk, da gibt es wunderbare Currywürste.

Sind Kioske in Berlin eine aussterbende Art?

Er ist eine vonseiten der Administration zu entfernende Gattung. Aber es gibt auch neue. Die Firma Wall hat zum Beispiel einen Kiosktyp entwickelt, der jetzt Unter den Linden zu sehen ist. Er wurde in Anlehnung an historische Vorbilder entworfen.

Sie haben Ihre Dissertation mit 76 angefangen. Wir wollen nicht auf dem Alter rumreiten, aber: Wieso schreiben Sie da noch eine Doktorarbeit?

Mir blieb mein Leben lang das Gefühl: Ich möchte noch einmal studieren. Weil ich früher keine Gelegenheit hatte – und mein Vater der Auffassung war, dass Frauen nicht an die Universität gehören. Ich habe nach dem Abitur mit 20 Jahren geheiratet, mit 23 war ich Witwe, weil mein Mann nach der Kriegsgefangenschaft gestorben ist. Ich bin dann Lehrerin geworden. Bis 50 bin ich in Bad Wildungen, meinem Geburtsort, geblieben und dann nach Marburg gezogen, wo ich als Ausbildungsleiterin tätig war.

Warum sind Sie dann sieben Jahre später nach Berlin gewechselt?

Ich habe in Marburg zwei junge Frauen kennen gelernt – wir wohnen noch heute zusammen in einer WG. Sie sind zwanzig Jahre jünger und studierten damals. Nach ihrem Abschluss wollten sie aus Marburg weg. Nun gut, dann habe ich mir in Berlin eine Stelle gesucht als Gesamtschulrektorin. Der Übergang war hart, aber ich habe es geschafft.

Sie sind eine mutige Frau.

Das mag sein. Ich werde natürlich unterstützt. Aber wenn ich mich für etwas entscheide, habe ich den Mut, es zu machen.

Wie haben Sie Ihre Unikarriere gestartet?

Mit 62 ging ich in Pension und habe dann erst vier Semester Gerontologie studiert. Und nachdem ich alles wusste, was mir mit 80 Jahren und mehr passieren könnte und wie das Leben dann so sein würde (lacht)

fanden sie es doch zu gruselig …

Das nicht, aber ich fand, es sei Zeit, noch etwas Neues zu machen. Soziologie hatte den Reiz, dass ich es noch überhaupt nicht kannte. Und dann ist es schön, wenn man Menschen hat, die sagen: Wir finden das gut, wir helfen dir.

War es schwer – zumal Sie ja vorher Lehrerin waren –, plötzlich in die Rolle der Studentin zu schlüpfen?

Ich hatte kein Problem, mich da einzuordnen. Ich habe auch nicht erwartet, dass mir irgendein Student im Seminarraum einen Platz anbietet. Ich habe mitgestreikt, wenn was zu streiken war. und ich habe die abenteuerlichsten Kreuzberger WGs kennen gelernt. Der Lohn dafür war, dass mich die StudentInnen anerkannt haben.

Man könnte jetzt vermuten, Sie gehen als Nächstes Ihre Habitiliation an.

Das macht keinen Sinn für mein Leben. Ich bin sehr glücklich über dieses Buch. Da stelle ich mich auch den Anforderungen der Medien, was mir eigentlich nicht liegt. Aber das gehört dazu, ich will mich nicht distanzieren. Auch nicht von den Schlagzeilen einer Bild oder B.Z.: ‚Frau Dr. Currywurst‘.

Das gab es?

Sie sollten mal recherchieren. Die Zeiten sind ja vorbei, wo man die Bild nicht anfassen würde. Ich meine, ich würde sie dennoch nicht lesen.

Wir müssen manchmal.

Ich lese die taz übrigens auch nicht. Weil sie früher, als ich mich für Zeitungen entschied, eine zu flapsige Sprache hatte.

Sie ist besser geworden. Wenn nicht die Habitilation – was dann?

Wir möchten aus Berlin weg, uns ein anderes Feld suchen. Meine beiden Freundinnen sind Coaches, geben Rhetorikkurse und Seminare zu vielen verschiedenen Themen. Aber sie möchten jetzt etwas mehr in der Natur sein und weniger Stress haben. Manche sagen ja, einen alten Baum verpflanzt man nicht. Ich habe gesagt: Ach, wisst ihr, ich bin eigentlich eine Kübelpflanze.

Warum soll die Kübelpflanze ausgerechnet ins Allgäu umziehen?

Wir sind in der Regel für schnelle Entschlüsse. Ohne das Allgäu wirklich gut zu kennen, sind wir im Frühjahr einmal hingefahren. Und fanden es ganz wunderbar. Dort wohnen nette Freunde, und als wir uns umschauten, ist uns schnell ein Domizil aufgefallen: eine Doppelhaushälfte. Die haben wir dann gekauft.

Gerade von Bayern heißt es, man bleibt dort auf ewig der ‚Zugroaste‘. Haben Sie keine Angst davor?

Wir wollen nicht unbedingt bayerisch werden. Unser Ort hat auch keinen typischen Dorfcharakter, es gibt viele Touristen – das haben wir bewusst ausgesucht. Außerdem geben wir drei uns genug Halt. Wir sind nicht auf jeden beurteilenden Blick der Nachbarn angewiesen, doch wollen wir uns mit ihnen gut vertragen.