Fan mit Sentiment

Sehr emotional dokumentiert ein Fußballnarr seine Leidenschaft: „Spiel ohne Ball“ (Sonntag, 21.15 Uhr, 3Sat)

Immer wieder sprintet Günter Netzer mit dem Ball am Fuß durchs Wembleystadion. Zwei, drei Engländer lässt er stehen gibt ab an Gerd Müller, der dann am englischen Keeper scheitert. In einer Bildschleife zeigt uns Alfred Behrens diese Szene aus dem Viertelfinale der EM 1972 in seinem neuen Dokumentarfilm „Das Spiel ohne Ball“. Als wollte er Gerhard Dellings Gerede vom Netzer’schen Standfußball demontieren. Oder als könnte er sich selbst nicht satt sehen am Dribbling seines ewigen Lieblingsspielers. Günter Netzer verkörperte für Alfred Behrens damals den neuen Fußballtypen, den genialischen Popstar unter den Kickern. Der so aussah, wie er und vermutlich die gleiche Musik hörte.

Alfred Behrens, Dokumentarfilmer und wie Netzer Grimme-Preisträger, hat einen „Filmbrief“ an seinen früh verstorbenen Bruder geschrieben. Ihm will er erzählen, was sich so alles ereignet hat im Fußball. Seine Perspektive ist eng verbunden mit den Stationen seines eigenen Lebens.

Er beginnt beim rot-weißen Kassenhäusschen von Altona 93, das heute noch da steht steht wie vor 55 Jahren, als sich der junge Alfred unter dem Mantel des älteren Bruders ins Stadion schmuggeln ließ. Damals, in der Saison 49/50, wurde Altona deutscher Meister. Heute spielt der Hamburger Club um den Aufstieg in die dritte Liga.

In den Sechzigerjahren geht Behrens nach London, um bei der BBC Journalist zu werden. Dort wohnt er gleich neben dem Stadion des FC Chelsea, damals ein zweitklassiger Verein. Heute ist er dank der Investitionen des russischen Ölmillionärs Abramowitsch einer der reichsten und besten Clubs der Welt.

Die dritte Station ist Berlin, genauer gesagt Hertha BSC. In der deutschen Hauptstadt lebt Alfred Behrens inzwischen, hier durchleidet er nicht nur mit dem dritten Verein seines Lebens die katastrophale letzte Saison. Er findet auch Anlass, über den Zusammenhang zwischen Fußball und „Berliner Republik“ zu spekulieren, die hohe Verschuldung zu beklagen, die der Bund und die Ligen gemein haben – und sich zu erinnern an bessere Zeiten, wie etwa an das Viertelfinale der EM 1972 und Günter Netzers Dribblings.

In dieser sentimental gefärbten Nostalgie liegen denn auch Reiz und Schwachpunkt von „Das Spiel ohne Ball“ zugleich. Die Modernisierung des Fußballs, die Veränderung der Spielsysteme von Libero zu Dreierkette und das veränderte Raumverständnis kommen bei Behrens nicht vor. Den Feldherrenfußball der Nationalmannschaft von 1972 als „besten aller Zeiten“ zu bezeichnen, ist sachlich einfach falsch. Und so grätscht der Fan und Hobbykicker leider immer wieder seinem eigenen Film in die Parade. GUIDO KIRSTEN