Phantasierende Frackträger

Gegen den Strich gebürstet: Peter Konwitschny macht aus Alban Bergs „Lulu“ an der Hamburgischen Staatsoper eine liebesuchende Frau. Musikalisch setzt Ingo Metzmacher die hochkomplexe Partitur hervorragend um

Wer Lulu begehrt, spielt mit dem Tod. Nicht umsonst nannte Frank Wedekind die Erstfassung seines gleichnamigen Schauspiels „eine Monstertragödie“. Bis heute haftet der Lulu-Figur das Klischee der männerverschlingenden Teufelin an. Auch Alban Bergs Oper strickt weiter an diesem Mythos. Ganz klar: ein Fall für Peter Konwitschny. An der Hamburgischen Staatsoper bürstet der Regisseur die Geschichte gegen den Strich. Lulu ist hier eine harmlose, liebesuchende Frau. Zum Sex-Objekt wird sie erst in den Köpfen der Männer. Das Premierenpublikum quittierte die auch musikalisch gelungene Neuproduktion mit kurzem, aber kräftigem Applaus.

Konwitschny und sein Ausstatter Hans-Joachim Schlieker zeigen eine sexualisierte Gesellschaft. Im Hintergrund räkeln sich Edelhuren in grell beleuchteten Boxen, während als Endlosschleife die Silhouetten potenzieller Freier vorbeihuschen. Die eigentliche Handlung ist in einen riesigen Plexiglas-Kasten verlegt. Oft treibt es Lulu mit einem oder mehreren Herren auf einem silbrig schimmernden Polstermöbel. Groteske, hektische Szenen – Herzinfarkt und Selbstmord inklusive. Das Objekt männlicher Begierde kommt in bizarren Kostümen daher, etwa mit Mega-Busen, in Lackstiefeln die Peitsche schwingend.

Unentwegt jagen Frackträger ihren Phantasien hinterher. Dass nicht Lulu als reale Frau gemeint ist, zeigt die Inszenierung durch eine lebensgroße Puppe. Statt mit der echten Lulu das Zwiegespräch zu suchen, reden die Männer auf die Puppe ein – wenn sie nicht gerade an ihr herumfingern, sie zerreißen oder aufbahren wie Schneewittchen. Am Ende landen alle in der Irrenanstalt. Während die Männer beraten, wie sie Lulu befreien könnten, betreut diese als Krankenschwester die Verwirrten.

Wie Konwitschny den Lulu-Mythos entzaubert, hat fesselnde und erhellende Momente. Doch einen mehrstündigen Opernabend trägt der polemische Ansatz nicht; zum Ende hin zerfasert das Geschehen. Viele Feinheiten gehen verloren, weil der Regisseur letztlich alle Männerfiguren in einen Topf wirft .

Dass am Premierenabend trotzdem keine Langeweile aufkam, dafür sorgte Ingo Metzmacher. Unter seiner Leitung begeisterte das Philharmonische Staatsorchester Hamburg durch souveränen Umgang mit der hochkomplexen Musiksprache Bergs. Die ausgetüftelten Klangstrukturen leuchteten und waren meistens sehr gut durchhörbar. Dem Generalmusikdirektor und seinen Musikern gelingt das Kunststück, die Partitur der zweiaktigen Fassung mit subtiler Sinnlichkeit auszuführen.

Ein starkes Sänger-Ensemble macht das musikalische Glück perfekt. Als echte Idealbesetzung erweist sich Marlis Petersen in der Titelrolle. Die junge Sängerin meisterte mit Bravour ihre schwierige Partie, den steten Wechsel zwischen Singen und Sprechen bis zum Schrei. Als Darstellerin wird sie zum Chamäleon. Eben noch Durchschnittsfrau, dann fleischgewordene Männerphantasie, schließlich züchtige Pflegerin. Am Ende verlässt die Lulu-Sängerin in Konwitschnys Inszenierung entnervt die Bühne. Auch die letzte der Männerfiguren ein unheilbarer Fall: ein Komponist. Der Rest ist Musik. Dagmar Penzlin

Staatsoper Hamburg. Aufführungen: 12., 15., 19. & 22. November, 19.30 Uhr