Der Satan im roten Slip

Jan Bosses gelungene Interpretation von Goethes „Faust“ hatte am Samstag im Deutschen Schauspielhaus Premiere. Statt im Guckkasten wurde mitten unter den Zuschauern gespielt. Nur beim Gretchen bleibt die mutige Inszenierung in alten Bahnen

von Katrin Jäger

Edgar Selge ist der „Faustspieler“. So die Selbstbezeichnung des verzweifelten Gelehrten in der Inszenierung von Jan Bosse, die am vergangenen Samstag im Deutschen Schauspielhaus Premiere hatte. Sie ist gelungen: tiefgründig und unterhaltsam, selbstironisch, gesellschaftskritisch. Dank eben dieser Selbstbezeichnungen oder kleinen, expliziten Ausflügen in den goetheschen Kanon. „Zauberlehrling!“, warnt Gretchens Bruder Valentin (Jörg Ratjen) und zitiert daraufhin des Beils „krachende Schärfe“, um seiner Rachelust am Doktor Ausdruck zu verleihen.

Dessen leidenschaftliche Umarmungen mit seinem zwei Köpfe größeren Teufelchen Mephisto (Joachim Meyerhoff), das gemeinsame Campieren im Kuppelzelt in schwindelerregenden Bergeshöhen, dies alles spielt sich auf der runden Bühne von Stéphane Laimé, mitten im Saal, ab, umkränzt von den Zuschauerplätzen. Wie in der Disko.

Die Plattform dreht sich, bunte Lampen blinken auf. Rauch steigt in die Höhe, diese rematerialisierte Zentralmetapher aus Goethes Hauptwerk. Faust ist einer von uns, genau wie die anderen irdischen Gestalten im Stück. Deshalb sitzen sie im Publikum, bevor sich einer nach dem anderen aus der Masse herausschält. Heinrich Faust behandelt all die Abonnenten und Theaterinteressierten als Schüler, jeder ein Wagner, der erfahren will, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Statt zu dozieren brüllt der Doktor: „Raus in die Natur.“

Diese ebenso simple wie intelligente Szene deutet auf des Pudels Kern der Tragödie: Das Hin und Her zwischen Natur und Kultur, zwischen Trieb und Geist. Bosses Inszenierung schafft es, dieses dichotome Setup in Frage zu stellen. Zum mancherorts immer noch gern beschworenen Dualismus von Gut und Böse gibt Mephisto den schlichten Kommentar: „Das Böse sind Sie los, die Bösen sind geblieben.“

Zum Bösen gehört auch die Schlagerbranche mit ihrem Alltagsrassismus à la Heinos „Mohikana-Shalali“. Auf dem Bühnenrand animiert Mephisto sein Publikum zum Mitsingen, selbst Bierhumpen-karnevalesk, mit einem Federschmuck verkleidet.

Ganz in Grau hält Faust seinen Eingangsmonolog vom „armen Thor“, dann verjüngt er sich zum Jeans-Outfit mit Fransenfrisur, entsprechend Peter Kraus mit seinem Dauerabonnement auf Jugendlichkeit. Mephisto verzichtet auf die abgegriffenen Attribute wie Pferdefuß und Schweif, präsentiert dafür teuflischen Schick: Knallroter Maßanzug, schwarze Trainingsjacke mit Kapuze, die die Glatze halloweenisch wirken lässt. Roter Slip, eng, mit kurzen Beinchen.

Zum Reinbeißen, mit schalem Beigeschmack aber. Denn in eben dieser Büchs belästigt der Satansbraten einen 14-Jährigen (Niels Christenhuss). Und Gretchen? „Sie ist über 14“, argumentiert Faust trotzig. An dieser Stelle hätte Bosse mehr Reinterpretation wagen dürfen: Wird Gretchen nicht auch missbraucht, liegt hier der klassische Fall von Erotisierung von Macht vor? Honoriger Professor macht Mädchen aus Arbeiterkreisen emotional abhängig, so könnte das Resumée dieser Geschichte lauten.

Doch die Inszenierung bleibt bei all ihrem kreativen Mut hier in den alten Bahnen: Gretchen ist hilflos, abhängig von Faust und ihrem Bruder. So bleibt der spielstarken Maja Schöne leider wenig Gelegenheit, ihre Bandbreite zu zeigen. Gretchens Intensität liegt klassisch im Leid. „Rette mich!“, schreit sie. Dabei stürzt sie durchs Publikum und fällt überraschten Menschen um den Hals, Mitglieder des Faust-Chors übrigens. Sie hecheln, und das genügt, um sich vorzustellen, wie der Pudel Fausts Studierzimmer beschleicht. Sie halten den Doktor mit österlichem Sakralgesang vom Selbstmord ab und stimmen das kritische „Dies Irae“ an. Eine geniale Idee.

Nächste Vorstellungen: Dienstag und Donnerstag, 20 Uhr, Schauspielhaus