Krankheit als ein letzter Ausweg

Frühverrentungen sind für viele Ältere eine Alternative zur Arbeitslosigkeit. Der Anteil der Psychodiagnosen steigt. Allerdings sind die medizinischen Gutachten sehr streng. Rentenexperten raten daher: Nicht zu sehr von den Hobbies schwärmen

von BARBARA DRIBBUSCH

Wer das Merkblatt von Tibor Jockusch überfliegt, muss auf den ersten Blick glauben, Tipps zum Sozialmissbrauch zu lesen. „Das beliebte Spazierengehen lässt Rückschlüsse auf die Restleistungsfähigkeit zu“, warnt Jockusch. Oder: „Wenn Sie den Eindruck erwecken, dass Sie aus purer Freude zweimal im Monat ins Thermalbad gehen, dann wird sich dies negativ auswirken.“ Jockusch ist Rentenberater im schwäbischen Kirchheim. Er hilft seinen Mandanten im Kampf um Erwerbsminderungsrenten – und diese Renten sind für viele Betroffene der ersehnte Ausweg aus der Jobwelt.

„Eine Frühverrentung ist für Ältere sozial akzeptierter als etwa eine lange Arbeitslosigkeit“, sagt Hanno Irle, Grundsatzreferent der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA). Jeder fünfte Neurentner in Deutschland wechselt heute aus gesundheitlichen Gründen in den Frühruhestand. Mehr als ein Viertel dieser Rentenzugänge wegen Erwerbsminderungen werden heute aufgrund von psychischen Erkrankungen bewilligt. Dieser Anteil ist gestiegen: Vor 20 Jahren waren das in Westdeutschland nur neun Prozent der Fälle. Bei Männern stehen dabei die Folgen von Alkoholmissbrauch an erster Stelle in der Diagnoseliste, bei Frauen sind es Depressionen.

Die nervlichen Belastungen in der Arbeitswelt sind gewachsen, körperliche Erschwernisse gehen hingegen zurück. Zudem seien psychische Diagnosen „nicht mehr so stigmatisiert wie früher“, erklärt Irle. Allderdings ist die Begutachtung streng. Die meisten Anträge werden abgelehnt, die Betroffenen gehen häufig in Widerspruch und setzen sich mitunter erst mit einer Klage durch. „Es ist seit einigen Jahren viel schwieriger geworden, eine Frühverrentung zu bekommen“, sagt Tom Bschor, Psychiater am Universitätsklinikum Dresden.

Mit dem Trend zu Psycho-Krankheiten tragen die Gutachter der Rentenversicherer eine große Verantwortung: Ihnen obliegt die Einschätzung der Erkrankten. Für die Beurteilung von Depressionen gibt es dabei zwar klare Kriterien wie etwa schwere Schlaf- und Konzentrationsstörungen, außerdem zählt die Krankengeschichte. „Aber viele der Symptome liegen im subjektiven Bereich“, so Bschor, „das ist schwerer messbar.“

„Da werden Leute zu Simulanten, zu Betrügern abgestempelt“, rügt Rentenberater Jockusch, der seine Klienten in Widerspruchs- und Klageverfahren unterstützt, „die kommen dann zu mir und sind vollkommen fertig.“

Um eine Depression zu beurteilen, erkundigen sich Ärzte genau nach Befindlichkeit und Vorgeschichte, aber auch nach dem Lebensstil des Kandidaten. „Da fragt man zum Beispiel auch nach den Hobbies“, erzählt Bschor. Wenn ein Antragsteller einem Gutachter dann naiv vom selbst angelegten Garten oder ausgedehnten Spaziergängen erzählt, könnte dies der Prüfer peinlich genau als Gegenbeweis für eine depressive Erkrankung vermerken.

Die Leute leiden dabei unter den Kostenverschiebungen: Krankenkassen schicken ihre Klientel gerne in die Frührente, die Rentenversicherungsträger hingegen wollen die Antragsteller lieber in einer Kur und auf dem Weg der Besserung sehen.

Geht der Antrag durch, bekommen die Erwerbsgeminderten nach den neuen Gesetzen immerhin 90 Prozent der Altersrente. Wer zwischen drei und sechs Stunden täglich arbeiten kann, hat nur Anspruch auf eine halbe Rente. Gibt es jedoch keine Teilzeitstellen, muss „aus Arbeitsmarktgründen“ die volle Erwerbsminderungsrente gewährt werden. Oft allerdings nur auf Zeit – nach drei Jahren müssen viele Frühverrenteten erneut zur Begutachtung. Und da zahlt es sich für einen depressiven Patienten mitunter sogar negativ aus, wenn er therapeutische Fortschritte gemacht hat.

Bschor kennt das Dilemma: „Viele Probleme des Sozialstaats“, resümiert der Psychiater nüchtern, „werden heute auf die Arztpraxen abgewälzt“.