Aus Not wird der Mensch zum Versuchsobjekt

Für viele Kranke sind klinische Studien die letzte Hoffnung. Eine Enquetekommission will nun ihren Schutz verbessern

Berlin taz ■ „Ohne die Studien würde ich heute nicht mehr leben.“ Vor 13 Jahren stellten die Ärzte bei Jörg Brosig die Diagnose multiples Myelom – eine seltene Form des Blutkrebses und unheilbar. Unzählige Behandlungen hat Brosig schon über sich ergehen lassen, die meisten davon in klinischen Tests. Neue Medikamentenkombinationen oder die Zulassungsstudie für das Conterganmittel Thalidomid: Risiken nimmt er in Kauf. „Die Angst, dass der Tumor siegt, ist größer.“

Jörg Brosig ist einer von elf Teilnehmern, die heute in einer Anhörung der Enquetekommission des Bundestages zu „Ethik und Recht der modernen Medizin“ von ihren Erfahrungen mit medizinischen Studien berichten. Die Expertenrunde im Bundestag beschäftigt die Frage, wie die klinische Forschung in Deutschland einerseits gefördert und andererseits die Rechte von Betroffenen besser geschützt werden können.

„Während es für die Bereiche Arzneimittelforschung und Medizinprodukte strenge Regelungen zum Schutz der Teilnehmer gibt, sehen wir vor allem noch Probleme in der Grundlagenforschung“, sagt Sigrid Graumann vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft in Berlin und Kommissionsmitglied.

Mehr als 13.000 klinische Studien werden in Deutschland pro Jahr durchgeführt. Nicht nur Medikamente, auch neue Diagnoseverfahren, Operationsmethoden und medizinische Geräte müssen vor ihrer Anwendung über Jahre getestet werden. Zunächst im Labor und an Tieren, später auch an gesunden Probanden, bevor in den letzten Phasen Erkrankte in die Studien mit einbezogen werden.

Dabei ist die Nachfrage häufig größer als das Angebot. „Die Betroffenen klammern sich an jeden Strohhalm.“ Dieter Würker-Friedel vertritt heute vor der Kommission Eltern, deren Kinder an einem lebensbedrohlichen Enzymdefekt leiden. Die psychologische Belastung bei einer Studie sei „enorm“. Schließlich bestünde immer auch die Möglichkeit, in einer Kontrollgruppe zu landen und statt der neuen Mittel nur Placebos zu bekommen. Würker-Friedel fordert deshalb neben der medizinischen auch eine stärkere psychologische Betreuung der Teilnehmer.

Gesetzliche Grundlage für die Durchführung von klinischen Tests ist die Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes von 1964. Sie besagt, dass die Risiken für den Patienten genau gegenüber dem möglichen Nutzen abgewogen werden müssen, eine gründliche Aufklärung und Betreuung aller Beteiligten ist Pflicht.

Doch das ist offensichtlich nicht immer der Fall. Bei Gertrud Alexander vom Schutzverband für Impfgeschädigte melden sich immer wieder Eltern mit dem Verdacht, dass ihr Kind durch eine Impfstudie gesundheitlich beeinträchtigt wurde. „Fast alle Eltern wurden über die Krankheiten aufgeklärt, gegen die geimpft wird, aber nicht über die Risiken der Impfung.“ Manche hätten nicht einmal gewusst, dass ihr Kind Teil einer Studie gewesen sei.

Welche Studien am Menschen zugelassen werden, darüber entscheiden in Deutschland die 53 bei Universitäten und Landesärztekammern angesiedelten Ethikkommissionen. Mit der Novelle des Arzneimittelgesetzes im August diesen Jahres ist ihre Kontrollfunktion nochmals verstärkt worden. Geht es nach der Bundestagskommission, soll aber auch ihre Rolle überprüft werden. Es werde bisher nach zu unterschiedlichen Standards beurteilt, kritisiert Sigrid Graumann. „Auch gibt es immer wieder Gerüchte um so genannte Gefälligkeitsgutachten.“

Die heutige Anhörung von Betroffenen stellt einen Auftakt dar. Bis 2006 will die Enquetekommission einen Abschlussbericht mit Empfehlungen für politische Entscheidungen vorlegen.

KARIN LOSERT