Die Mutter der Swing States

AUS KANSAS CITY/MISSOURI MICHAEL STRECK

130 Anrufe. Das ist ihre Ausbeute am heutigen Abend. Debrah Evans streicht den letzten Namen von ihrer langen Namensliste. „Ich brauche bald ein neues Ohr“, scherzt sie. Es ist halb zehn Uhr abends. In der Wahlkampfzentrale der Demokraten für den Großraum Kansas City brennt noch grelles Neonlicht, als sollte es extra ungemütlich sein, um die Schar der Freiwilligen in dieser Nachtschicht wach zu halten.

In dem Backsteingebäude an der nicht enden wollenden Ausfallstraße mit Tankstellen und Supermärkten sitzt Debrah Evans gemeinsam mit vierzig anderen Aktivisten an langen Tischreihen mit Telefonen. Ein Wahlkampf-Callcenter. Die Wände sind tapeziert mit Stadtplänen, unzähligen Zetteln, Pizzaservice-Flyern und John-Kerry-Postern. Evans, die kleine Endfünfzigerin mit den kurzen blonden Haaren, hat vor vier Wochen Haus und Mann im sonnigen Kalifornien zurückgelassen, um sich hier in den Wahlkampf zu stürzen. Schließlich ist sie in „KC“, wie Einheimische Kansas City nennen, aufgewachsen. Und schließlich wird im Bundesstaat Missouri, dessen größte Stadt KC ist, die Wahl entschieden. Davon ist Evans überzeugt.

„Bodenkrieg“ im Mittelwesten

Nach der Wahlarithmetik stimmt das natürlich nicht, hier sind schließlich nur 11 der landesweit 538 Wahlmännerstimmen zu verteilen. Dem Bundesstaat eilt jedoch ein fast mystischer Ruf voraus. Es heißt, wer die Mutter aller Swing States gewinnt, zieht ins Weiße Haus. Das war, mit einer Ausnahme, seit 1900 immer so. Vor vier Jahren siegte hier George W. Bush mit 3 Prozentpunkten.

Damit sich diese Geschichte nicht wiederholt, packte Evans ihre Koffer. Die pensionierte PR-Beraterin wohnt nun wieder bei ihren Eltern, nutzt deren Wagen und die Flugmeilen ihres Mannes, um zwischen Wohn- und Wahlkampfort zu pendeln. Hier koordiniert sie vor allem die Telefonaktionen. Oft kommt sie nicht vor Mitternacht ins Bett. „Sollte Kerry verlieren“, sagt sie, „will ich morgens wenigstens in den Spiegel schauen und zu mir sagen können: Ich habe alles versucht. Und wenn er gewinnt, ist das dann auch mein Verdienst.“

Evans muss erst mal verschnaufen, sie verschwindet im „break room“, um sich mit Kaffee und Pizza zu versorgen. Derweil rennt Michael Golden, Chef des Einsatzstabs, hektisch durch die Räume. Nein, für lange Gespräche hat er in der heißen Endphase des Wahlkampfs nun wirklich keine Zeit. Und wenn, dann rasselt er wie ein Unternehmensmanager Erfolgszahlen herunter: 10.000 Anrufe heute Nacht – 45.000 Freiwillige in ganz Missouri im Einsatz – 150.000 neue Wähler im Bundesstaat registriert.

Die Operation Wahlkampf 2004 hat in jeder Hinsicht bislang unbekannte Ausmaße erreicht, sagt Golden. „Ground War“, Bodenkrieg, nennt er die verbleibenden Tage bis zum Wahltag. Seine Stoßtrupps kämpfen jetzt Straße für Straße, Haus um Haus nach einem ausgetüftelten Schlachtplan. Wie potenzielle Wähler genau identifiziert werden, verrät er nicht. Nur so viel lässt er durchblicken: Die „Ziele“ werden in eine Kategorie von eins bis fünf unterteilt. Starke Kerry-Befürworter erhalten eine „eins“, überzeugte Bush-Fans eine „fünf“. „Wir kümmern uns um zwei bis drei.“ Diese werden in den verbleibenden Tagen Besuch vom seinen Überzeugungskommandos bekommen.

Natürlich sagen hier in der Einsatzzentrale alle, dass Kerry momentan die Nase vorn hat, auch wenn seine Sterne in Missouri nicht besonders günstig stehen. Doch Umfragen sind fehlerhaft, und die Geschichte erlaubt vielleicht eine zweite Ausnahme, macht sich Debrah Evans Mut. Auf ihren Streifzügen durch die Stadt und bei ihren Anrufen ist sie oft überrascht, wie viele Wähler noch unentschlossenen sind. Bushs in ihren Augen desaströse Amtszeit ist offenbar nicht genug, Amerikaner von einem Wechsel zu überzeugen. „Die Leute hadern mit Kerry. Sie zweifeln daran, dass er im Antiterrorkampf hart genug durchgreifen wird.“ Hier zeigt sich, wie erfolgreich Bushs Wahlkampfrhetorik gegen Kerrys Person war.

Wahlkampf in den Vorgärten

Zu Evans überraschendsten Erfahrungen gehört, wie tief das Land gespalten ist. Es ist oft kaum mehr möglich, mit Republikanern sachlich zu reden, sagt sie enttäuscht. „Sie reagieren verbohrt, aggressiv, knallen den Hörer auf oder die Tür zu.“ Wer sich nur kurz in der Stadt aufhält, könnte meinen, Missouri sei fest in demokratischer Hand. Überall Kerry-Schilder an Autoscheiben, in Fenstern und in Gärten. Weiter draußen, in den Vororten, sind Kerry und Bush ausgewogen vertreten, bevor irgendwann nur noch ganz Mutige ihr sichtbares Bekenntnis zu dem Liberalen aus Neuengland ablegen. Vereinzelt, wollen Lokalzeitungen erfahren haben, klauten erboste Republikaner ihren Nachbarn den Kerry aus dem Blumenbeet.

Missouri war schon immer ein säuberlich in zwei politische Lager getrennter Bundesstaat. Er vereint in der Mitte Amerikas die Viehzüchter der „Great Plains“, die Farmer im fruchtbaren Schwemmland des Mississippi, mit den Arbeitern in den alten Industriestädten Kansas City und St. Louis, die über eine gepfefferte Prise konservativer Südstaatenmentalität verfügen. 36 Prozent aller registrierten Wähler hier bezeichnen sich als wiedergeborene Christen, auch George W. Bush ist einer. Kirchen werden hier schneller als Supermärkte gebaut. Politisch korrekt heißt hier, gegen Abtreibung und Homoehe und für Waffenbesitz und Todesstrafe zu sein.

KC ist, blickt man auf die Landkarte der letzen Wahl, eine blaue Insel im roten republikanischen Meer – dank starker Gewerkschaften und einem hohen Anteil schwarzer Bevölkerung. Die Stadt, einst größter Viehmarkt und drittwichtigster Eisenbahnknotenpunkt der USA, erlebte jedoch in den vergangenen vier Jahren einen Aderlass von Industrie und Arbeitsplätzen. Am Eingang zum riesigen Ford-Werk, das sich schon von weitem durch einen öligen Geruch ankündigt, ist daher niemand gut auf Bush zu sprechen. Mit wem man hier auch spricht, es dominieren die Themen unsicherer Arbeitsmarkt und explodierende Gesundheitskosten. Und der hohe Benzinpreis. Wen wundert es – das Durchschnittsauto ist ein Geländewagen, verrät ein Blick über den Parkplatz.

Den Irakkrieg erwähnen nur wenige. Lediglich ein junger Mann schimpft über die Invasion und meint, die Kriegsmilliarden würden dringend an der Heimatfront fehlen. Aber er kommt ja auch aus New Jersey, ist also mit dem liberalen, aufsässigen Ostküstenvirus infiziert und daher nicht Teil des „American Mainstream“, den Bush unermüdlich proklamiert.

Wer nicht den Aktivisten der Demokraten zuhört, sondern ihren Sympathisanten auf der Straße, bemerkt den schwachen Enthusiasmus für den Spitzenmann. Öfter fällt der Satz, Kerry sei „the lesser evil“, also das geringere Übel. Auch Susan, die im Studentenviertel der Stadt hinter dem Tresen einer Kneipe steht, drückte sich so aus. Sie gehört zu jenen Neuwählern, die sich erstmals in die Wahllisten haben eintragen lassen. Obwohl sie fest vorhat, ihre Stimme abzugehen, ist sie eine Woche vor dem Urnengang immer noch unentschieden. Da sie den Irakkrieg ablehnt, schlägt ihr inneres Pendel leicht in Richtung Kerry aus. Doch sie zweifelt an seiner Fähigkeit, die Irakkrise rasch zu beenden. „Wahrscheinlich werde ich mich erst in der Wahlkabine endgültig entscheiden.“

Die Demokraten in Missouri trösten sich dieser Tage damit, dass schon einmal einer der ihren, der das Volk nicht von den Sitzen riss und im Schatten seines charismatischen Vorgängers stand, im Rennen um das Weiße Haus längst abgeschrieben war. Harry Truman, Nachfolger des verstorbenen Franklin D. Roosevelt, war am Wahltag 1948 von der Presse schon in die Rente geschickt worden, Zeitungen titelten bereits mit seiner Niederlage. Doch Kansas Citys berühmtester Sohn siegte – völlig überraschend.

Sieger im „neuen Weltkrieg“

Im Vorort Independence erinnert heute das Truman-Museum, ein nüchterner grauer Flachbau, an sein politisches Vermächtnis. Der eingefleischte Multilateralist gilt der Demokratin Evans als Beispiel für außenpolitische Stärke und Weitsicht. Truman hatte einst die Gründungsurkunde zur UNO unterschrieben, gemeinsam mit den Alliierten Strategien zur Eindämmung der Sowjetunion entworfen, den Marshallplan gegen massive Widerstände im Kongress aus der Taufe gehoben und durch die Nato-Gründung mit Amerikas Tradition gebrochen, keine internationalen Militärbündnisse einzugehen. Ironischerweise identifizieren sich heute auch Bush-Anhänger mit seiner Politik. Der Verdacht liegt nahe, dass sie ihn reduzieren, um ihn zu vereinnahmen.

Im Gästebuch finden sich zahlreiche Eintragungen wie „lesson from history: vote Bush“. Ein Paar aus Missouri steht vor einer Glasvitrine mit Schwarz-weiß-Fotos, die Truman auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 zeigen. Die bekennenden Republikaner sagen, dass sie ihn bewundern und Parallelen zu Bush feststellen. Sie sprechen von Visionen, einem langen Atem, standfestem Charakter, klarem moralischem Kompass bei der Befreiung von Diktaturen und Verbreitung von Demokratie. Für sie ist Bush „kühn“, sie glauben an seinen haushohen Sieg.

Ein anderer Besucher, ein Baptistenprediger aus Nevada, sieht Bushs Außenpolitik in einer Linie mit der Trumans. Nur Bush besitze die Führungsstärke, den „neuen Weltkrieg“ gegen den Terror zu gewinnen. Kommt die Rede auf Kerry, kann er seine Abneigung kaum verbergen. Er verzieht das Gesicht, als beiße er auf etwas Saures, wenn er den Demokraten als schwach, wankelmütig, opportunistisch und visionslos tadelt. Beim Stichwort Irakkrieg wird er grundsätzlich: „Ich hoffe, Bush marschiert in seiner zweiten Amtszeit in den Iran und nach Nordkorea“, sagt er ernsthaft. „Für die Sache der Freiheit muss Blut vergossen werden.“

Am nächsten Tag berichtet der Kansas City Star, das Kerry-Team habe die Fernsehwerbung für Missouri zurückgefahren. Das wird hier als Anzeichen dafür gewertet, dass der Bundesstaat bereits aufgegeben hat. Doch in der Wahlkampfzentrale will niemand etwas davon wissen. „In Missouri“, sagt Debrah Evans trotzig, „ist alles möglich.“