Religiöser Appell gegen Scharons Abzugsplan

Im Streit um den Gaza-Abzug wird der Tonfall schärfer: Radikale Rabbiner fordern israelische Soldaten zur Befehlsverweigerung auf

JERUSALEM taz ■ Am morgigen Dienstag wird das israelische Parlament eine historische Entscheidung fällen: die Räumung jüdischer Siedlungen. Die insgesamt 21 zum Teil sehr kleinen Siedlungen im Gaza-Streifen sowie vier jüdische Ortschaften im Norden des Westjordanlandes stehen zur Debatte. Israels Premierminister Ariel Scharon ist eine Mehrheit im Parlament sicher, allerdings nur mit den Stimmen der Opposition. Im eigenen Likud-Lager wächst die Besorgnis, dass die Bewegung gespalten wird. Radikale Siedler nennen Scharon einen „Diktator“, Rabbiner rufen Soldaten zur Befehlsverweigerung auf, und Oppositionsführer Schimon Peres fürchtet um das Leben seines Freundes Scharon. Die Hetzparolen wecken Erinnerungen an die letzten Wochen vor dem Mordanschlag durch einen jüdischen Fanatiker auf den früheren Premierminister Jitzhak Rabin, der im November 1995 starb.

Erst am Wochenende musste Scharon eine weitere Niederlage einstecken auf seinem endlosen Hindernislauf, als der sich sein Plan für den Abzug aus dem Gaza-Streifen zunehmend entpuppt. Ungeachtet seiner diplomatischen Anstrengungen, die ultraorthodoxe Schass möglicherweise gar für den Einzug in die Koalition zu gewinnen, rief Schass-Mentor Rabbi Ovadia Jossef die Abgeordneten dazu auf, am Dienstag gegen den Premierminister zu stimmen. Das Wort des geistigen Führers ist für die elf Schass-Parlamentarier Gebot, Rabbi Jossef warnte darüber hinaus auch die nicht seiner Partei angehörenden religiösen Abgeordneten vor dem „Gericht Gottes“, dem sich alle, die den Plan unterstützten, eines Tages stellen müssten. „Der Abkopplungsplan ist gefährlich“, meinte er in seiner wöchentlichen Predigt. „Jeder, der an die Thora glaubt, muss gegen ihn stimmen.“ Gleichzeitig appellierte der Religionsführer an die Einheit im Volk. Einen Bürgerkrieg werde es in Israel nicht geben.

Die Frage, ob das israelische Volk vor einer Spaltung steht, beschäftigt die Öffentlichkeit seit Wochen. Ein Referendum könnte Abhilfe schaffen, raten vor allem die Abzugsgegner im Likud. Scharon hingegen ist strikt gegen einen Volksentscheid. Unterdessen nimmt die Debatte immer schärfere Formen an. Laut Berichten der Friedensbewegung „Gusch Schalom“ werden in den Gefängnissen Vorbereitungen für mögliche Massenfestnahmen getroffen, die Armee plane die Mobilmachung von 10.000 Reservisten.

Federführend im rechten Lager ist eine Gruppe radikaler Rabbiner, allen voran der frühere Oberrabbiner Abraham Schapira, der Soldaten und Polizisten für den Fall, dass es zur Räumung von Siedlungen kommt, zur Befehlsverweigerung aufrief. Die „gottesfürchtigen Sicherheitsleute“ sollten, so riet Schapira, ihre Vorgesetzten schon jetzt davon in Kenntnis setzen, dass sie an den Evakuierungen nicht teilnehmen werden. 60 führende Rabbiner unterzeichneten einen ähnlichen Aufruf an die national-religiösen Soldaten. Die gewaltsame Evakuierung von Siedlern legitimiere „individuellen Ungehorsam aus Gewissensgründen“, heißt es in dem Appell.

Nach einer früheren Umfrage von Peace Now erwäge nur „ein Prozent der Siedler“ den gewalttätigen Widerstand. Die Mehrheit der Abzugsgegner hält sich vorläufig strikt an Gewaltlosigkeit. Die „zehn Gebote für Siedler“, die im Verlauf einer Demonstration verteilt wurden, erklären „physische und verbale Gewalt“ für „strikt verboten“. Ein Bürgerkrieg wäre eine „Katastrophe“, die es mit allen Mitteln zu verhindern gelte. Allerdings halten die „Gebote“ auch fest, dass jeder, der den Abzugsplan voranzutreiben versucht, „alle Regeln der Demokratie zerstört“.

Tatsächlich versucht Scharon, seinen Plan gegen den Mehrheitsentscheid seiner eigenen Partei durchzuboxen, und droht schon mit der Kündigung von Ministern, sollten sie am Dienstag gegen die Regierung entscheiden. Minister Usi Landau, einer der parteiinternen Rädelsführer gegen den Scharon-Plan, wäre ein solcher Kandidat. Aus dem Kabinett verwiesen, würde er vermutlich eine eigene rechtsnationale Bewegung gründen und all den Likud-Mitgliedern, die unverändert an „Groß-Israel“ festhalten, eine neue Heimat bieten. Möglich ist, dass die Spaltung des Likud die Spannung im Volk lindert und die neue Bewegung den Konflikt wieder verstärkt auf die parlamentarische Bühne hebt. SUSANNE KNAUL