: Sein Herz so weiß
Hohe Schauspielkunst: Das Deutsche Theater Berlin gastierte mit „Tag der Gnade“ am Hamburger Thalia
Er lümmelt auf dem Sofa herum, sie kommt mit voll beladenen Einkaufstüten nach Hause. Dann streiten sich die beiden 90 Minuten lang. Weil er untätig ist und sich nicht entscheiden kann. Weil sie ihn bevormundet und klein macht. Das Zweipersonenstück „Tag der Gnade“ des amerikanischen Dramatikers Neil LaBute, ein Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin, das am vergangenen Wochenende im Hamburger Thalia Theater gezeigt wurde, schildert einen erbitterten Machtkampf. Abby (Dagmar Manzel) und ihr Geliebter Ben (Robert Gallinowski) überlegen einen Tag nach dem 11. September, ob sie den Terroranschlag auf das World Trade Center als Chance zum persönlichen Neubeginn begreifen sollen.
Für Ben, der im World Trade Center gearbeitet hat, wäre es ein Einfaches, Frau und Kinder glauben zu lassen, er wäre in den Twin Towers umgekommen. Dann könnte er ein neues Leben mit seiner Geliebten beginnen. Natürlich ist alles nicht so einfach. Warum sollte eine Mittvierzigerin mit Topjob alles aufgeben? Warum sollte ein Mittdreißigjähriger seine Frau und seine zwei Kinder verlassen – alles nur „für einen guten Fick?“ Denn viel mehr als der pure Sex scheint die beiden nach Jahren heimlicher Paarbeziehung nicht zu verbinden. Und selbst der scheint nicht mehr der Renner zu sein: Abby hat während der Liebesakte auch schon manchen Einkaufszettel konzipiert. Was Dagmar Manzel als scharfzüngige, ironisch bis zynische Abby von sich gibt, hat Biss und sitzt in jedem Augenaufschlag perfekt.
Die Königskinder können einander nicht finden. Da hilft auch kein Krieg da draußen. Ab und an linst Abby durch die Jalousie hinunter auf das von weißem Ascheregen bedeckte Manhattan. Doch die Katastrophe dringt nicht wirklich in die abgeschlossene Welt des Paars ein. Regisseur Thomas Schulte-Michels widersetzt sich zu Recht LaButes Regieanweisung nach weißem Ascheregen auf allen Möbel- und Kleidungsstücken. Wohl ist Weiß die vorherrschende Farbe auf der Bühne: weißes Sofa, weiße Wände, weißer Boden. Aber es ist ein steriles Weiß, so unberührt, wie Ben im Grunde seines Herzens vom Tod tausender Menschen bleibt.
Gekeife, Gezerre, Provokationen. Beide wetzen die Sprachmesser: Er hasst es, wenn sie auf seine Vorwürfe antwortet: „Ich habe es zur Kenntnis genommen.“ Sie hasst es, wenn er auf ihre Vorwürfe sagt: „Lass es.“ Nur einmal kommen sich beide wirklich nahe und küssen sich lang und innig. Da spürt man etwas von der fast verschütteten Zuneigung. Aber dann steht sie wieder statuenhaft im kleinen Schwarzen da und schaut auf ihn herab, wie er mit gelockerter Krawatte im Sofa versinkt.
„Tag der Gnade“ ist vordergründig ein eher schlicht gestricktes Beziehungsdrama vor brisantem politischen Hintergrund. Wer will, kann einen lakonischen politischen Kommentar zum 11. September darin entdecken: Kriegerische Kommunikationsstrukturen im Kleinen begünstigen Terroranschläge im Großen. Man kann sich aber auch einfach an hoher Schauspielkunst erfreuen. Karin Liebe
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