„Ich war ein krimineller Streuner“

Lothar Berg will Schüler von Gewalt abhalten. Er weiß, wovon er spricht. Als Jugendlicher musste er gehörig einstecken. Vom Vater. Vom Lehrer. Später hat er selbst ordentlich ausgeteilt. Er wurde Schläger, Hehler, Häftling. Und schrieb darüber ein Buch

VON THOMAS JOERDENS

Lothar Berg sitzt bequem in einem abgewetzten, braunen Ledersessel. Die Beine lang gestreckt; die Arme auf den Lehnen, an denen alte Boxhandschuhe stecken. Er schaut aus dem Fenster seines kleinen Büros in Neukölln. Draußen dröhnen die Lastwagen, drinnen sinniert der Schriftsteller. „Früher war Gewalt eine Sache von Randgruppen, von Rockern und Zuhältern. Doch das hat sich komplett geändert. Heute ist Gewalt alltäglich und überall. Wir sind auf dem Weg zurück in die Steinzeit.“ Berg gestikuliert nun, richtet sich auf, haut die Faust auf die helle Schreibtischplatte. Er will nicht zurück in die Steinzeit.

Lothar Berg hat das Buch „Fenster der Gewalt“ geschrieben und sich zusätzlich ein Schulprojekt ausgedacht. Der Autor sucht im gesamten Bundesgebiet den Dialog mit Jugendlichen. Je früher sich junge Menschen kritisch mit körperlicher und verbaler Gewalt auseinander setzen, desto besser, lautet die Berg’sche These. Sehr schön.

Doch warum sollten 14- bis 17-Jährige ausgerechnet mit Lothar Berg reden, der im Januar 54 Jahre alt wird und fast ihr Opa sein könnte? Und wenn die Jungen mit dem Alten reden, warum sollten sie auf ihn hören?

Lothar Berg wirkt auf Jugendliche so anziehend wie ein alternder 68er auf pubertierende HipHopper. Der Mann trägt das graue Haar raspelkurz, einen gestutzten Vollbart und auf der Nase eine John-Lennon-Brille. Dazu eine grüne, wollene Hose mit Fischgratmuster, ein gleichfarbiges Cordhemd und braune Schuhe.

Lothar Berg will nicht mit seiner Optik bei Jugendlichen punkten. Er schöpft aus seiner Biografie und berichtet, wohin Gewalt führen kann. In 26 Kurzgeschichten in „Fenster der Gewalt“ schildert er knapp, schlicht und drastisch, wie heranwachsende, junge und gestandene Männer in Schlägereien geraten. Sie kämpfen häufig, bis einer krankenhausreif und für immer gezeichnet am Boden liegt. In den Texten brechen Knochen, fliegen Zähne, platzen Gesichter, spritzt Blut. Gnadenlose Gewaltexzesse gehören für Bergs Figuren zur Tagesordnung und bestimmten lange sein eigenes Leben.

Der Autor hat sich keine Geschichte ausgedacht. In manchen übernimmt der stämmige, 1,82 Meter große Mann mit den tätowierten Armen und dem ausladenden Cowboygang die Hauptrolle. In anderen Texten steht er als Beobachter am Rand, oder er hat davon gehört. „Das ist alles authentisch.“ Lothar Berg hat selbst nichts vergessen. Er erinnert sich genau an die Wut im Bauch, das Rauschen im Kopf, die Schläge, die Schmerzen, die Verletzungen, die Anerkennung nach Siegen, den Spott bei Niederlagen. Er kennt die zerstörerische Spirale, die sich unaufhörlich weiterdreht, im Knast endet oder auf dem Friedhof.

Der ehemalige Straßenkämpfer hat damit abgeschlossen und nachgedacht. Gewalt ist für Berg das „älteste Kommunikationsmittel“, um das niemand herumkommt. Aber man sollte damit verantwortungsvoll umgehen und ständig sein eigenes Handeln hinterfragen. Diese Einsicht will er mit seinem Schulprojekt vermitteln. Dafür organisiert er gemeinsam mit Frank Kessler, Schauspieler, Kickboxer und Großkampfmeister im Taekwondo, szenische Lesungen und diskutiert anschließend mit den Schülern. „Aber nicht als mahnender Lehrer, sondern als gleichberechtigter Gesprächspartner.“ Darauf legt Lothar Berg großen Wert.

An solchen mangelt es ihm in seiner Jugend. In den 50er- und 60er-Jahren wird nicht diskutiert, sondern pariert. Davon kann Berg so manches Lied singen. Die Hand seines Vaters sitzt locker, und die Lehrer langen ebenfalls zu, wenn Lothar mal wieder aus der Reihe tanzt. Der Junge aus Witten im Ruhrpott ist ein guter Schüler, aber auch der Klassenkasper und ein frecher Bengel. Er baut ständig Mist und ist immer vorne dabei. Das nervt. Vor allem die Erwachsenen, die Lothar mit ihrer körperlichen und intellektuellen Überlegenheit ständig in die Schranken weisen. In Lothar wächst eine ohnmächtige Wut. Er fühlt sich wehrlos und hasst schon als Zwölfjähriger die Erwachsenenwelt, die ihn drangsaliert und einengt. Zugleich fühlt er sich zu der Rockergruppe hingezogen, die immer „auf der Ecke“ herumlungert. „Die haben wir bewundert, weil die sich über die Normen hinweggesetzt haben.“

Auf der Handelsschule gilt Lothar bereits als Außenseiter. Er eifert seinen Rockeridolen nach, sitzt mit schmieriger Pomadetolle, speckiger Lederjacke und dreckigen Jeans im Unterricht. Er trinkt sich des Öfteren durch die Nächte und knattert ohne Führerschein auf seinem Kreidler-Moped durch die Stadt. Die anschließende Kaufmannslehre steht Lothar nicht durch. Der 16- Jährige fliegt, nachdem er einen erwachsenen Kollegen geschlagen hat, der ihm das Rauchen verbieten wollte. „Ich bin sofort aufgebraust und habe ihn gefragt, ob er bescheuert ist. Daraufhin hob er die Hand. Ich war aber schneller“, erinnert sich Lothar Berg.

Seine cholerischen Wutausbrüche prallen auf eine verständnislose Erwachsenenwelt, die ausschließlich Gehorsam erwartet. In Lothar ringen noch eine Zeit lang die Konventionen aus seinem Elternhaus mit dem Drang, sich aus dem „Gefängnis der Vorschriften“ zu befreien. „Soll ich die Revolution wagen? Aber das tut man doch nicht. Was sollen die Nachbarn denken?“ Der unverstandene Rebell bricht schließlich aus, ballt die Fäuste, will es der Welt zeigen.

„Ich war hart unterwegs. Ein krimineller Streuner.“ Details seiner 15-jährigen Verbrecherkarriere behält Lothar Berg für sich, doch er beschönigt nichts. Bis 1978 hakt er unterschiedliche Stationen ab: Rocker, Schläger, Einbrecher, Hehler, Lude, Türsteher, Barmann, Tagelöhner, Obdachloser, Häftling.

Die von Männern dominierte Unterwelt funktioniert nach einfachen Regeln, lebt von Härte, Fairness und Treue. Das liegt Lothar, der „als Mann“ respektiert werden will. Er produziert sich, säuft wie ein Loch, schlägt sich hemmungslos und erfüllt die vermeintlichen Erwartungen seiner Kumpels. Der junge, durchtrainierte Schlaks gilt in der Szene schnell „als gerader Typ, der keine Lampe baut“, also niemanden verrät. Lothar entwickelt keinen Ehrgeiz, Boss zu werden. Ihm genügen das Ansehen der anderen, die Prügeleien, die Partys und das Zusammengehörigkeitsgefühl.

Erste Risse bekommt dieser Lebenswandel 1974, Lothar ist Anfang 20. Er wohnt seit drei Jahren in Berlin und hat eine Hure geheiratet. Sie wollen ein „normales Leben“ führen, scheitern aber und kippen rasch in die alte Szene zurück. Die Ehe zerbricht. Gegen Lothar häufen sich inzwischen die Haftbefehle wegen zahlreicher Vergehen. 1976 muss er für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis.

Während des zweiten längeren Knastaufenthalts beendet Lothar Berg endgültig sein Leben als „krimineller Streuner“. Dazu treibt ihn eine Mischung aus Langeweile, fortschreitendem Alter und der Sehnsucht nach etwas Neuem. „Ich kannte das Milieu ja in- und auswendig. Mir fehlte die Herausforderung, die Spannung.“ Außerdem geht er auf 30 zu und hätte ganz schön trainieren müssen, um mit dem Nachwuchs körperlich mithalten zu können. Berg fasst bei seiner Entlassung Vorsätze: keinen Alkohol mehr trinken und Geld auf ehrliche Weise verdienen.

Seinen Elan verliert er in der JVA Tegel nicht. Berg berserkert in seinen Jobs nach derselben Maxime, wie er auf der Straße gekämpft hat: „Wenn ich was mache, dann zieh ich’s auch durch.“ Mit Vollgas wuppt er zunächst im Tiefbau, schafft es vom Schipper bis zum Kolonnenführer. Anfang der 80er-Jahre wird er Kurierfahrer, besucht parallel Lehrgänge und gründet 1987 ein Transportunternehmen, das in diesem Jahr Pleite gegangen ist.

Seit Ende der 90er schreibt Lothar Berg auch fiktive und authentische Geschichten. Sein erstes Buch, „Ohne Kompromiss“, erscheint im Eigenverlag und erzählt das Leben des Ausbrecherkönigs Eckehard „Ekke“ Lehmann. Es folgen ein Theaterstück, mehrere Drehbücher, Krimis und „Fenster der Gewalt“, das vergangenes Jahr erschienen ist. „Ich habe Ideen für 15 bis 20 weitere Stoffe“, sagt Lothar Berg, der manchmal zwölf und mehr Stunden am Stück schreibt. Innerhalb des nächsten Jahres will er von der Schriftstellerei leben. Dann soll auch das Schulprojekt ein Selbstläufer geworden sein.

Die innere Umstellung dauert länger. Nach der Entlassung aus der Haft benötigt Lothar Berg fast zwölf Jahre, um zu lernen, seine Gefühle zu kontrollieren, nicht bei jeder Kleinigkeit auszurasten und seine Gewaltbereitschaft zu reflektieren. „Meine Frau hat mich rund geschliffen“, sagt er und lacht. Sabine lernt er 1979 kennen, als er auf dem Bau arbeitet. Aber Lothar Berg ist auch ein bisschen der Alte geblieben. Er schätzt die klare Ansage, mag „gerade Leute“ und lässt sich ungern in seinen Kram reden oder bevormunden. Und manchmal kann man sogar noch den wilden Lothar Berg spüren. Etwa, wenn er seine Sätze mit sausenden Luftschlägen begleitet oder die Faust ein bisschen zu laut auf den Schreibtisch knallt.