Kerrys Cool Rocking Daddy

„John teilte unsere Wut, aber er kontrollierte sie. Die Leute haben ihm zugehört, weil er nicht so offensichtlich wütend war“

AUS WASHINGTON BERND PICKERT

Die Kugel zerschlägt die Lunge und die Wirbelsäule. Es ist der 29. April 1969. Marine Corps 1st Lieutenant Robert Olivier Muller, 23, führt einen Verband von 500 südvietnamesischen Soldaten an. Ihr Ziel: ein Hügel, gehalten von 15 Vietcong, die, halb tot schon durch schwere Luftangriffe der USA, den Hügel bis zur letzten Kugel verteidigen. Muller sitzt auf einem der drei US-Panzer, die den Infanteristen bei ihrem Vormarsch Schutz bieten sollen. Plötzlich durchdringt ihn ein Schmerz, dann große Wärme, dann die Gewissheit, dass er sterben wird, dann nichts mehr.

Es ist eine Kette von Zufällen, die ihm das Leben rettet. Er selbst hatte bereits Hubschrauber angefordert, um andere Verletzte abtransportieren zu lassen – als er selbst zusammensackt, sind sie schon da. Vor der Küste kreuzt ein US-Sanitätsschiff, die „USS Repose“. Als Muller Tage später auf dem Schiff erwacht, hat er sieben Schläuche in seinem Körper. „Ich war wie in Ekstase. Ich konnte nicht glauben, was für ein Glück ich hatte – ich lebte!“

Wenige Tage später bringt ihm der Militärarzt „eine gute und eine schlechte Nachricht“. Die gute: Muller wird leben. Die schlechte, er wird von der Hüfte abwärts gelähmt bleiben. „Machen Sie sich keine Sorgen, das kriege ich hin“, verkündet Muller. Seither sitzt er im Rollstuhl. Er hat es hingekriegt. Er hat gekämpft – erst für sich, dann für andere, jetzt für John F. Kerry.

Oktober 2004. „Komm rein!“, brüllt Bobby Muller durch die an diesem Samstag leeren Flure des Großraumbüros der „Vietnam Veterans of America Foundation“ im vierten Stock des Bürogebäudes in 1725 I Street, Washington, DC. Und schon kommt er dem Besucher entgegengerollt, energiegeladen und schwungvoll, als wäre er nicht im Rollstuhl unterwegs, sondern würde auf Inline Skates durch die Etage rasen.

Muller ist jetzt 59 Jahre alt und glattrasiert. Er trägt einen zivilen Kurzhaarschnitt und ein legeres Jackett. Er ist nur für ein paar Stunden in Washington, dann geht es wieder zum Flughafen, zu einer neuen Runde von Vorträgen und Diskussionen mit jungen Leuten, über den Kurs der USA, über die Notwendigkeit, am kommenden Dienstag einen anderen Präsidenten zu wählen. Den, der da gewählt werden soll, John Kerry, kennt Muller seit über 30 Jahren. Es war 1971, als sie beide die Vietnamveteranen in der Antikriegsbewegung organisierten.

Muller hatte da bereits mehrere Etappen hinter sich, die er heute als sein politisches Erwachen beschreibt. Anfang der 60er hatte er noch ein völlig durchschnittliches Studentenleben gelebt, war an der New Yorker Hofstra University für Betriebswirtschaft eingeschrieben, hatte Fußball an der High School gespielt und war Ringer am College gewesen. „Die wirkliche Tragödie ist, dass ich so total naiv war. Als College-Abgänger sollte ich doch gebildet sein – ich war ein Idiot.“

So hatte er sich Anfang 1968 bei den Marines eingeschrieben, nach 33 Wochen Ausbildung – „genau, wie es Kubrick in ‚Full Metal Jacket‘ zeigt, war es bei mir“ – ging es nach Vietnam. Seinen ersten Toten sah Muller im September 1968, 90 Sekunden nach Beginn seines ersten Einsatzes, kaum dass er aus einem Hubschrauber auf vietnamesischem Boden abgesprungen war. Acht Monate später wurde er verwundet.

Zurück, im Rollstuhl, verbrachte Muller zunächst ein Jahr in einer Reha-Klinik für Vietnamsoldaten in der Bronx, unter katastrophalen Umständen. Sein engster Freund und acht weitere Kameraden mit Wirbelsäulenverletzungen brachten sich um. „Kein Mensch kümmerte sich um uns. Ich musste gegen dieses System ankämpfen, um überhaupt zu überleben.“

Muller entdeckte schnell sein Talent für öffentlichkeitswirksame Kampagnen. Am Tag, als Präsident Richard Nixon ein Gesetz zur Veteranenversorgung unter Verweis auf haushaltspolitische Verantwortung mit einem Veto belegte, blockierte Muller am Times Square mit seinem Rollstuhl den Verkehr. „Ich sagte: Moment mal. Ich war ein Infanterieoffizier der Marines. Ich habe täglich über hunderttausende von Dollar verfügt, um Menschen umzubringen. Ich wurde verwundet, komme zurück, und plötzlich sagen sie mir, dass es haushaltspolitisch unverantwortlich ist, eine vernünftige Gesundheitsversorgung bereitzustellen?“

Der Kampf um die eigene Versorgung macht ihn zum Anti-Kriegs-Aktivisten, der in seinem Rollstuhl viel fotografiert wird, und dessen rhetorisches Talent nicht unbemerkt bleibt. Muller erhält Aufmerksamkeit, aber er bewirkt wenig.

Anders John Kerry. Über den sagt Muller heute: „John teilte diese Wut, aber er kontrollierte sie und sprach viel moderater als wir. Aber die Leute haben ihm zugehört, weil er eben nicht so offensichtlich wütend war. Ihm waren seine Wahlchancen wichtiger als seine Emotionen. Das Ausrechnen von Wahlchancen ging bei ihm über die Emotionen. Das hat er immer so gemacht – deshalb ist er ja heute Präsidentschaftskandidat.“

Zunächst aber schlugen Muller und Kerry ähnliche Bahnen ein. Wie Kerry kandidierte Muller 1972 vergeblich für das Repräsentantenhaus, wie Kerry ging Muller danach zurück an die Universität, mit Kerry und zwei anderen gemeinsam gründete Muller 1978 die Vietnam Veterans of America (VVA). Beide hatten eines gelernt: Einfach nur Fairness und Gerechtigkeit einzufordern, selbst mit der Unterstützung von Washington Post und New York Times, brachte nichts – keine einzige Forderung der Veteranen wurde Gesetz. Erst organisierte Lobbyarbeit schaffte es, Gesetze zur Versorgung und Entschädigung von Vietnamveteranen und Agent-Orange-Opfern durchzusetzen.

Doch dann trennten sich die Wege Kerrys und Mullers: Kerry blieb in der Politik und wurde 1985 Senator für Massachussets, Muller gründete die Vietnam Veterans for America Foundation (VVAF). Sie ist es, die 1981 eine erste Delegation zurück nach Vietnam schickt. An ihrer Spitze: Bobby Muller. Die Delegation legt die ersten Grundlagen für die Versöhnung beider Seiten, die erst 14 Jahre später in der formalen Normalisierung der Beziehungen durch Präsidenten Bill Clinton mündet. Damals aber gilt Muller vielen ehemaligen Kampfgefährten als Verräter.

Doch die VVAF wächst, und sie erhielt prominente Unterstützung. Bruce Springsteen gibt ein Benefiz-Konzert, und auf dem CD-Mitschnitt, den Muller, wie auch Fotos von jenem Konzert, bis heute in seinem Büro aufbewahrt, ist er auch selbst zu hören: „Rock ’n’ Roll, das Symbol schlechthin unserer Generation, wird den Heilungsprozess voranbringen“, ruft Muller darauf. Die Verbindung zu Springsteen bleibt. Wenige Jahre später schreibt Springsteen einen Song. Darin heißt es: „Got in a little hometown jam / So they put a rifle in my hand / Sent me off to a foreign land / To go and kill the yellow man.“

Der Song heißt „Born in the USA“ und wird Springsteens größter Hit überhaupt. Als er ihn fertig hat, lädt Springsteen Muller ins Studio ein. Springsteen erzählt später, Muller „saß da einen Moment lang und hörte die ersten Verse, dann ging ein breites Lächeln über sein Gesicht“. Die letzte Strophe endet so: „Born in the USA. I’m a cool rocking daddy in the USA“. Im Fernsehen sagt Springsteen später, dass er Muller gemeint hat.

Mit der VVAF besucht Muller Mitte der Achtzigerjahre Kambodscha. Muller ist schockiert über die Killing Fields, aber er ist bald noch entsetzter über die zehntausenden von Landminen, die noch überall im Boden vergraben sind und Jahre nach Ende des Krieges ihre Opfer fordern. Die VVAF beginnt Hilfsprojekte in Kambodscha und gründet 1991 mit anderen zusammen die Landminenkampagne. 1997 erhält die Kampagne den Friedensnobelpreis.

Der Kampf gegen die Landminen ist heute das wichtigste Thema der VVAF und Bobby Mullers. Aber nicht in diesen Tagen. Da ist er rund um die Uhr unterwegs, um die Wiederwahl von George W. Bush zu verhindern und seinen alten Freund John Kerry ins Weiße Haus zu befördern. Er weiß, dass ein Präsident Kerry allein nicht viel ausrichten kann, und so sieht er es als seine Aufgabe, innerhalb der US-Gesellschaft mit seinen Mitteln für Aufklärung zu sorgen.

Erst dann nämlich, wenn die Gesellschaft Veränderung fordert, könne Kerry wirklich regieren. Dass sie das tun wird, dafür sorgt die Weltlage: „Wir sind im Irak in großen Problemen – wir haben diesen Krieg bereits verloren.“ Iran, Pakistan, Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien – „das geht alles den Bach runter.“ Und dann, meint Muller, wäre der Punkt erreicht, wie in Vietnam, an dem sich auch die Politik verändern muss – dann kann Kerry etwas tun.

Und wenn Bush wiedergewählt wird? „Dann vergiss es! Dann werden wir sehr bald Krieg haben, und es wird eine Katastrophe. Und wir werden innerhalb der USA keinen Spielraum mehr haben, um Widerstand zu organisieren.“

Das ist für einen, der so viel Energie übrig hat wie Bobby Muller, mehr als Grund genug, auf Ruhephasen vorläufig zu verzichten. Und im Übrigen will er jetzt noch schnell duschen, und dann zum Flughafen.