Libanon versucht einen Drahtseilakt

Die Regierung in Beirut will ihre wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen ausbauen. Politisch hingegen gibt es Spannungen wegen Hisbullah und der Rolle Syriens. Der US-Senat stimmt jetzt für Sanktionen gegen die Regierung in Damaskus

aus Beirut ALFRED HACKENSBERGER

Wer am 23. Oktober in Beirut mit dem Bus oder mit einem Sammeltaxi zur Arbeit fahren wollte, wartete vergeblich. Die Beschäftigten des öffentlichen und privaten Transportwesens beteiligten sich an einem landesweiten Generalstreik, zu dem der libanesische Gewerkschaftsbund GLC aufgerufen hatte. Banken, Schulen, Universitäten und der Flughafen von Beirut blieben geschlossen. Für einige Stunden gab es keine Elektrizität und kein Fernsehen. Doch in den Fabriken wurde normal gearbeitet, und alle Geschäfte hatten geöffnet. Nach fünfzehn Jahren Bürgerkrieg haben die Menschen im Libanon das Vertrauen in jede Art von Politik verloren. Auch zehn Jahre Wiederaufbau konnten daran nichts ändern.

Auf der Kundgebung zum Generalstreik im Zentrum von Beirut forderte Ghassan Ghosn, der Präsident des Gewerkschaftsbunds, höhere Löhne und den Ausbau der Sozialleistungen. Der Hauptteil seiner Rede galt aber der Misswirtschaft und der Korruption der Regierung und der aufgeblähten Staatsbürokratie.

Korruption und Bestechung wiegen bei einem Staatsdefizit von 32,2 Milliarden Dollar besonders schwer. Die Inflationsrate beträgt 8,29 Prozent, und die Arbeitslosenquote liegt bei 20 Prozent. Vor allem junge Menschen, daunter viele mit Hochschulabschluss, finden keine Beschäftigung und wandern deshalb aus.

Über die Behebung der wirtschaftlichen Misere ist sich die Regierung uneins. Premierminister Rafik Hariri, erfolgreicher Unternehmer und Multimillionär, setzt auf das Allheilmittel „Privatisierung“, während Präsident Emile Lahoud nicht an deren „Wunderkraft“ glaubt. Einig sind sie sich indessen in der Notwendigkeit einer Ausweitung der Handelsbeziehungen zum Westen, insbesondere zu den USA.

Weder der Präsident noch der Premier sieht darin einen Widerspruch zur arabischen Identität des Libanon, die in erster Linie eine Anti-Israel-Haltung bedeutet und sich auch gegen die Hegemonie der USA im arabischen Raum wendet. Es ist wahrlich ein Spagat zwischen wirtschaftlichen und politischen Interessen. Dabei hat die Regierung offenbar die Politik der USA gegen „terroristische Staaten“ unterschätzt.

Am Dientsagabend verabschiedete der US-Senat mit 89 zu 4 Stimmen eine Gesetzesvorlage zur Verhängung von Sanktionen gegen Syrien. Der Regierung in Damaskus werden Unterstützung des Terrorismus und das Streben nach Massenvernichtungswaffen vorgeworfen. Außerdem wird der Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon gefordert. Zwar muss das Gesetz noch von Präsident George W. Bush unterzeichnet werden, doch die Regierung in Beirut steckt jetzt in einer verzwickten Lage. Sie stellt das Freundschafts- und Verteidigungsbündnis mit Syrien nicht in Frage. Syrien, das im Libanon rund 30.000 Soldaten stationiert hat, gilt nach wie vor als Bündnispartner gegen Israel. Nach mehrfachen Invasionen Israels und der zwölfjährigen Besetzung des Südlibanon ist die Befürchtung allgegenwärtig, erneut Opfer eines militärischen Angriffs zu werden. Die Erfüllung von Forderungen der USA, wie etwa die Einfrierung der Bankkonten der palästinensischen Hamas, sind aus libanesischer Sicht undenkbar. Eine Gruppe wie die Hisbullah, die im Libanon ganz offiziell als legitime „Widerstandsbewegung gegen die israelische Okkupation“ hofiert wird, zu verbieten oder zu entwaffnen ist für die Regierung ein Ding der Unmöglichkeit.

Noch hofft die Regierung, wie Premier Hariri sagte, „dass man mit Geduld und Vernunft eine Verständigung mit der internationalen Gemeinschaft erreicht“. Hariri möchte neue Kredite der Weltbank und Investoren aus den USA anlocken, um die Wirtschaft anzukurbeln. Die Zuspitzung des Konflikts zwischen USA und Syrien käme für das Land einer Katastrophe gleich.

Aber das ist nicht die einzige unabwägbare Komponente dieser Region, die den Drahtseilakt der Regierung scheitern lassen könnte. Der jüngste israelische Luftangriff auf ein Ziel in Syrien beweist aus libanesischer Sicht erneut die Unberechenbarkeit Israels. Der Eindruck, die fragile Lage im Nahen Osten könne jederzeit in einen Krieg münden, ist weit verbreitet. Der Staat mit seinen knapp 4 Millionen Einwohnern wäre dann wieder einmal mittendrin, wie gewöhnlich als Spielball fremder Mächte.