Das Biotop für die Boheme

Das Hotel: Das Chelsea-Hotel, im gleichnamigen Manhattaner Stadtteil an der 23. Straße gelegen, wurde 1885 als vornehmes Apartmenthaus gebaut. Seit 1905 ist es ein Hotel mit Langzeitvermietung. In der frühen Zeit war es die bevorzugte Absteige von Schauspielern, die Engagements am nahe gelegenen Broadway hatten.

Die Stars: In der frühen Zeit wohnten hier die Broadway-Diva Sarah Bernhard und die Schriftsteller Mark Twain und Thomas Wolfe. In den Fünfzigerjahren lebten William Burroughs ebenso wie Jack Kerouac und Allen Ginsberg im Chelsea. Der Bühnenschriftsteller Arthur Miller zog nach seiner Scheidung von Marilyn Monroe ein. Später mieteten sich Andy Warhol, Leonard Cohen, Joni Mitchell, Bob Dylan, Janis Joplin, Julian Schnabel, Grace Jones, der Regisseur Abel Ferrara und der Songwriter Ryan Adams in das Hotel ein.

Die Touristen: Auswärtige können heute die neueren, plüschig renovierten Zimmer ab zirka 210 Dollar pro Nacht mieten.

AUS NEW YORK SEBASTIAN MOLL

„Ich erzähl dir mal ’ne Geschichte“, sagt Arthur Nash und nimmt einen tiefen Zug an seinem Joint. Über die Wangen des etwa 40-Jährigen ziehen sich buschige Rockabilly-Koteletten, aus seinem T-Shirt lugen fleischige Arme, die über und über mit Tattoos bedeckt sind. Wir sitzen in mit falschem Leopardenfell bezogenen Flohmarktsesseln in Arthurs schummeriger Bude, dem Zimmer 203 des Chelsea-Hotels. Warum er sich so energisch für die Rückkehr des vor zwei Jahren geschassten Hotelmanagers Stanley Bard starkmacht, hatte ich von ihm wissen wollen.

An einem Nachmittag vor ein paar Jahren, hebt Nash an, habe Stanley Bard gerade an der Rezeption ein japanisches Touristenpaar abgefertigt, als ein Dauermieter versuchte, sich an ihm vorbeizuschleichen. „Ich habe dich gesehen“, rief Bard dem Mann zu – einem Künstler mit aktenkundigen Drogenproblemen. „Wenn du bis Montag nicht deine Miete zahlst, dann fliegst du raus.“ Schamhaft schlich sich der Künstler zur Theke und flehte mit gedämpfter Stimme: „Stanley, ich habe das Geld nicht, ich kann mir nicht einmal ein Mittagessen leisten.“ Bard zückte, ohne zu zögern, seine Brieftasche und steckte dem Künstler 20 Dollar zu. Dann wandte er sich, als sei nichts gewesen, wieder den Japanern zu.

So hat Stanley Bard, dessen Vater zusammen mit zwei Partnern 1940 das Chelsea kaufte, mehr als 50 Jahre lang das Hotel geführt. Seit das Chelsea sich Anfang des 20. Jahrhunderts als bevorzugtes Wohnhotel für New Yorker Theatergrößen etablierte, war es ein Biotop für die Boheme, und Bard ging es immer vor allem darum, diesen Charakter des Chelsea zu wahren. Etwa die Hälfte der 250 Zimmer waren stets an Künstler dauervermietet. Wer einen Vertrag bekam entschied Bard je nachdem, ob er meinte, der- oder diejenige passe hinein in seine Kommune der kreativen Exzentriker und Außenseiter. Der Mietpreis richtete sich danach, was der Künstler gerade bezahlen konnte. Wenn er einmal nicht genügend Cash hatte, nahm Bard auch Kunstwerke an; wer gerade Erfolg hatte, zahlte ein wenig mehr.

So schaffte es Bard, die Tradition der frühen Jahre, in denen Broadway-Diva Sarah Bernhard hier angeblich in einem Sarg nächtigte und Mark Twain hier abstieg. Zunächst, in den Fünfzigerjahren war das Chelsea so etwas wie das Clubhaus der Beatniks. William Burroughs schrieb hier „Naked Lunch“, Jack Kerouac und Allen Ginsberg lebten auch im Hotel an der 23. Straße. Dylan Thomas soff sich angeblich im Chelsea zu Tode. In den Sechzigerjahren wohnte Bob Dylan vier Jahre im Zimmer 211, Leonard Cohen erhielt von Janis Joplin einen Blow Job und schrieb ein Lied darüber. Andy Warhol drehte hier seinen Film „Chelsea Girls“.

In den Siebzigern und Achtzigern übernahmen dann die Punks die Szene. Patti Smith, DeeDee Ramone und Iggy Pop stiegen hier ab und natürlich Sid Vicious, der 1978 in Zimmer 103 im Heroinwahn seine Freundin Nancy Spungen erstach. Kurz darauf beging er Selbstmord. Das Zimmer wurde ein Wallfahrtsort für Punkpilger aus der ganzen Welt, bis Stanley Bard die Suite in zwei Zimmer aufteilte, weil die Andachtsfeiern und Séancen kein Ende nehmen wollten. Auf den neueren Seiten des Gästebuchs stehen Madonna, die im Zimmer 822 ihr Buch „Sex“ fotografierte, der Regisseur Abel Ferrara, der Künstler Julian Schnabel sowie die Songwriter Rufus Wainwright und Ryan Adams.

Investoren wollen das Chelsea-Hotel in ein Luxushotel verwandeln

Etwa seit der Jahrtausendwende werden das Chelsea und das gleichnamige Viertel jedoch von demselben Übel bedroht, das die Boheme schon längst überall anders aus Manhattan vertrieb: Die Viertel mit alternativem Lebensstil verwandelten sich in Tummelplätze für Wall-Street-Yuppies. Die explodierenden Immobilienpreise weckten bei den Mitbesitzern des Chelsea Gelüste, das alte Gemäuer zu sanieren und in ein austauchbares Luxushotel zu verwandeln. Denn das Gebäude mit seinen knarzenden Dielen und dem bröckelnden Stuck sieht im Großen und Ganzen noch immer so aus wie 1905. Stanley Bard war den Investoren dabei im Weg, und so wurde er am 18. Juni 2007 nach 52 Jahren seines Postens als Manager enthoben.

Als Ersatz für Bard heuerten die beiden Mehrheitseigner Marlene Krauss und David Elder die Hotelmanagementfirma BD an, die bereits drei andere heruntergekommene Hotels in New York in Edelabsteigen verwandelt hatten. „Die hatten mich vom ersten Tag an auf dem Korn“, sagt Arthur Nash über die BD-Leute. Nash war gerade erst zugezogen, einer der Letzten, der noch von Stanley Bard einen Vertrag bekommen hatte, wie er stolz betont. Trotzdem war er einer derjenigen, die im Widerstand gegen die Sanierung, das „Boutiquing“, wie die Bewohner sagen, am aktivsten waren.

Dabei ist der eigentliche Drahtzieher des Widerstands nicht Nash, sondern Ed Hamilton. Der Schriftsteller und Philosophielehrer, an sich ein besonnener und sogar etwas schüchterner kleiner Mann, wohnt seit zwölf Jahren mit seiner Freundin Debbie im Zimmer Nummer 819, einem kleinen Raum, der mit dem Bett, einem kleinen Schreibtisch und einem Tischfußballspiel komplett ausgefüllt ist. In der Ecke sind ein winziges Handwaschbecken und ein Kühlschrank, eine Küche gibt es nicht. Das Bad, in dem ein großes Porträt des Beatdichters Herbert Huncke hängt, ist auf dem Gang.

Hamilton sagt, dass er sich niemals vorstellen könne, irgendwo anders zu leben als hier. „Diese spezielle Energie, die gibt es nirgends sonst.“ Wenn er einmal mit seinen Manuskripten nicht mehr weiterkommt, sagt Hamilton, dann gehe er einfach in die Lobby, die mit Kunstwerken der Bewohner vollgestopft ist. Dort sieht er bekannte Gesichter und führt ein inspirierendes Gespräch: mit dem Dichter David Lintner etwa, der dort meist auf seinem Stammsessel sitzt und liest; oder mit dem exaltierten Theaterproduzenten Scott Griffin, einem der treuesten und engagiertesten Mitstreiter Hamiltons, der sich hier häufig in seinen schrillen Outfits mit Schauspielern trifft.

Etwa die Hälfte der 250 Zimmer waren stets an Künstler dauervermietet

Hamilton heckte, als Bard gefeuert wurde, eine Strategie aus und mobilisierte die anderen Mieter. Zunächst müsse man die Marktpreisbindung beantragen, so Hamiltons Plan, um zu verhindern, dass man durch Mietwucher rausgedrängt werden kann. Weiterhin müssten die Mieter bei jeder Baumaßnahme beim Bauamt anrufen und klagen, dass die Arbeiten eine unzumutbare Belastung darstellen. Als Arthur Nash genau das tat, weil in seinem Nachbarzimmer, der ehemaligen Wohnung von Bob Dylan, die Wände eingerissen wurden, reagierte das neue Management aggressiv. Zweimal haben die Bodybuilder des von BD angeheuerten Sicherheitsdienstes versucht, ihn in der Lobby und vor dem Hotel durch Handgreiflichkeiten einzuschüchtern. Doch es nutzte ihnen nichts. Sie handelten sich damit nur noch eine weitere Klage ein. Mit dem Dylan-Zimmer bekam Nash ebenfalls Recht. Die Umbauarbeiten mussten eingestellt werden. Allein an der Dachterrasse, wo sich bis zum letzten Sommer noch die widerborstigen Mieter zu ihren konspirativen Versammlungen trafen, wird noch herumgewerkelt – eine Bar soll dort entstehen. „Das ist die Rache für das Dylan-Zimmer“, sagt Hamilton. Die kleine Rache dürfte David Elder und Marlene Krauss allerdings nur begrenzte Genugtuung verschaffen. Insgesamt sieht es mittlerweile nämlich eher so aus, als würden die Mieter den Kampf um das Chelsea gewinnen. Die Firma BD wurde wieder gefeuert, weil sie nicht vorankam. Danach versuchte sich der britische Hotelmanager Andrew Tilley an dem Projekt. Seine Strategie war weniger brutal. Er wollte die Künstler für seine Pläne gewinnen, „das Hotel ins 21. Jahrhundert“ zu führen und sie mit einbeziehen. Doch niemand traute ihm, und schließlich musste auch er aufgeben. Jetzt findet das Management niemanden mehr für den Job – der Posten ist seit einem halben Jahr vakant. Natürlich arbeitet auch die Wirtschaftskrise für Hamilton und seine Mitstreiter und gegen die hochtrabenden Pläne, aus dem Chelsea einen sprudelnden Quell von Touristendollars zu machen. „Die kriegen auch die schon sanierten Zimmer nicht mehr voll“, sagt Hamilton. „Sie behaupten zwar, das sei der Fall, weil ich sie in meinem Blog diffamiere und mit Reportern spreche.“ In Wirklichkeit habe das aber nur in zweiter Linie etwas mit der Negativ-PR zu tun. Seit dem Börsencrash lassen sich selbst in New York keine Zimmer mehr für 400 Dollar pro Nacht vermieten. Und von Weekend-Specials für 80 Dollar lässt sich keine Renovierung für Millionen bezahlen. Die Pläne von Elder und Krauss sind vorerst Makulatur.

Noch triumphieren die Leute des Chelsea jedoch nicht. „Als Tilley rausgeflogen ist, dachte ich, die Sache ist durch und Bard kommt wieder“, sagt Arthur Nash, der im Halbdunkel seines Anderthalbzimmer-Apartments nun schon den dritten Joint des Nachmittags raucht. „Aber das ist jetzt schon ein halbes Jahr her.“ Und so lange, bis Bard zurück ist, traut Nash dem Frieden nicht. „Ich verreise erst einmal nicht“, sagt er. „Ich habe jedes Mal, wenn ich aus dem Haus gehe, Angst, dass ich zurückkomme und mein Schloss ist ausgewechselt.“

„Es geht doch nicht nur um das Chelsea“, erklärt Nash. „Es geht um New York.“ Das Chelsea sei der letzte Überrest jenes New York, das er kannte, als er hier in den Achtzigern aufwuchs. Wenn das Chelsea verschwände, dann sterbe die Hoffnung, dass es in New York noch um mehr geht, als Geld zu verdienen und auszugeben. „Im Moment“, sagt Nash und dämpft die Erregung, in die er sich trotz Marihuana-Nebels geredet hat. Er spielt mit einem von Fidel Castro signierten Baseball herum, der auf seinem Sofatisch liegt, „im Moment sieht es so gut aus, wie schon lange nicht mehr.“ Entschieden ist hier noch nichts.