Neue Lust am Kollektiv

Mit dem Thema Gemeinschaft den Zuschauer aus der Reserve locken: ein neues Festival im Mai auf Kampnagel

Begriffe sind wie Schiffe, die auf den Wellen der Zeit schwimmen. Unter Gemeinschaft etwa konnte man lange kaum was anderes als „Volksgemeinschaft“ verstehen, mithin einen Albtraum. Der Traum der Emanzipation hörte auf den Namen Selbstverwirklichung: Wenn erstmal der Einzelne die Zwänge, Normen, Traditionen, all die Fesseln der Gemeinschaft abgeworfen habe, dann, ja dann … Weil nun aber die einst revolutionäre „Sorge um sich“ vor allem zur verantwortungslosen Ich-Maschine geführt hat, zu Wellness und urbanem Latte-Macchiato-Strich, hat der Gemeinschaftsbegriff, jetzt dialektisch aufgeladen, das Wellental hinter sich gelassen. Jetzt heißt es mit Hölderlin: „Immer bestehet ein Maß, Allen gemein“, ohne dass in alt-sozialistischer Manier der Nachsatz fallen gelassen würde: „Doch jeglichem auch ist eignes beschieden, Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann“.

So auch auf Kampnagel. Vom 15. bis 23. Mai wird dort das neue von Anne Kersting und Jochen Roller kuratierte Live Art Festival über die Bühne gehen. „Kollektive aller Länder!“ lautet der Titel, den Imperativ, das „vereinigt Euch“, hat man weggelassen. Denn Einheit funktioniert nur über Ausschluss, und damit ist man bereits bei der zentralen Lehre des Eröffnungsstücks: Am Hauptbahnhof will die australische Gruppe „Back to Back Theater“ exemplarisch vorführen, wie respektlos sich die Gesellschaft gegenüber Menschen verhält, die ihr als unproduktiv gelten – was heißt: als überflüssig.

Andere Stücke beschäftigen sich mit der Integration des Zuschauers ins Stück, um „ein neues Verständnis für Gemeinschaft und kollektive Verantwortung“ zu schaffen, sagte Roller am Mittwoch. So zeigt Ivana Müller erstmals ihre neue Produktion „Playing Ensemble Again And Again“. Darin fangen die Schauspieler dort an, wo ein Stück üblicherweise endet: mit der Verbeugung. Frédéric Gies wird mit „Dance (Practicable)“ das Ergebnis eines kollektiven choreografischen Prozesses zeigen, während die Hamburger Choreografin Dani Brown und Joavien Ng aus Singapur in „Body Swap“ ihre Identitäten tauschen.

Die Gruppe Ligna schließlich kommt für ihr performatives Hörspiel „Der neue Mensch“ ganz ohne Schauspieler aus: Indem es die Zuschauer für Theaterverhältnisse nahezu total mobil macht. MAXIMILIAN PROBST