Die den Stein ins Rollen brachten

Für die friedliche Revolution 1989 spielte Potsdam eine wichtigere Rolle als bisher bekannt. In der Stadt gab es nicht nur zahlreiche oppositionelle Gruppen, sondern auch eine starke Kulturszene

Unter dem Motto „Freiheit. Gleichheit. Brandenburg“ startet das Kulturlandjahr Brandenburg 2009. Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls widmen sich bis zu 500 Veranstaltungen den Themen Demokratie und Demokratiebewegungen, wie Kulturministerin Johanna Wanka (CDU) am Mittwoch in Potsdam sagte. Mit einem Festakt im Beisein von Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) wird die Veranstaltungsreihe am 6. Mai in Sacrow eröffnet. Neben Konzerten, Ausstellungen und einer Publikation zum Thema friedliche Revolution widmet sich eine Schau den Anfängen der Demokratie in Preußen. DPA

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VON PETER-ULRICH WEISS

Wer in Überblicksdarstellungen zu den Protesten im Herbst 1989 in der DDR den ehemaligen Bezirk Potsdam sucht, wird feststellen, dass dieser ebenso wenig präsent ist wie Cottbus oder Frankfurt (Oder). Sie gelten als verschlafene Regionen, wo man erst den Schritt auf die Straße wagte, als Massenproteste landesweit bereits Normalität waren. Befasst man sich intensiver mit Potsdam als Stadt und Bezirk, kommt man schnell zu einem anderen Ergebnis.

In der Reihe der Ereignisse, die die Massenprotestbewegung und friedliche Revolution in der Bezirkshauptstadt in Gang setzten, sticht bereits der 4. Oktober hervor. An diesem Tag beschweren sich landesweit DDR-Bürger in den Meldestellen der Volkspolizei über die tags zuvor verhängte Visumpflicht für Reisen in die ČSSR. In Ostberlin verabschieden Bürgerrechtler verschiedener Gruppen eine „Gemeinsame Erklärung“, in der sie die Bürger zur Mitwirkung aufrufen, um „Staat und Gesellschaft demokratisch umzuformen“. Im Dresdener Hauptbahnhof hingegen liefern sich Polizei und Menschen, die zu Tausenden auf die Züge mit den DDR-Botschaftsflüchtlingen aus Prag warten, stundenlange Straßenschlachten.

In Potsdam fand an jenem 4. Oktober, einem Mittwoch, die erste große Informationsveranstaltung zum Neuen Forum in der Babelsberger Friedrichskirche statt. Die Stadt galt allein schon wegen der hier angesiedelten Akademie für Staat und Recht, der Pädagogischen Hochschule als „DDR-Lehrerschmiede“, der Juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sowie wegen der zahlreichen hauptamtlichen Grenz- und Sicherheitsorgane als besonders SED-lastig. Umso größer geriet die Aufregung.

Drei- bis viertausend Leute waren schließlich gekommen, fast zehnmal so viel wie von den überraschten Veranstaltern erwartet. Unter großer Zustimmung erklärte der Potsdamer Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs, der Physiker Reinhard Meinel, dass man die offizielle Ablehnung des Neuen Forums vom 21. September nicht hinnehmen werde.

Dass diese Veranstaltung und nicht erst die Großdemonstration vom 4. November auf dem heutigen Luisenplatz die Potsdamer Herbstproteste auslöste, ist mit einem allgemeinen Verweis auf die Unzufriedenheit der Menschen oder „des Volkes“ kaum ausreichend erklärt. Dass die Veranstaltung zu diesem Zeitpunkt stattfand, lag in erster Linie zunächst sowohl am bereits vorhandenen oppositionellen Nährboden als auch am mutig-entschlossenen Engagement Einzelner. Denn schaut man genauer auf die lokale Akteursebene, offenbart sich eine kleine, aber etablierte Szene gesellschaftskritischer Gruppen, die zum Teil seit Jahren aktiv waren und deren Protagonisten auch im weiteren Verlauf des Umbruchs entscheidende Impulse setzen sollten.

Profil und Typus der Gruppen reichen von offen systemkritisch bis selbstbezogen, es dominierten die Themen Friedensarbeit, Menschen- und Bürgerrechte sowie Stadtentwicklung und -ökologie. Klar thematisch orientiert waren die Dritte-Welt-Gruppe tierra unida, der Frauenkreis der Friedrichskirchgemeinde, die AG für Umweltschutz und Stadtentwicklung Argus, die Projektgruppe AG Pfingstberg und die Anti-Skinhead-Liga gegen Neonazismus.

Diskussions- und Veranstaltungszirkel, wo gesellschaftskritische Themen vorrangig in Verbindung mit Glaubensfragen debattiert wurden, stellten der Friedenskreis des Kirchenkreises Potsdam, die Arche sowie der Arbeitskreis Solidarische Kirche an der evangelischen Ausbildungsstätte für Gemeindepädagogik Potsdam (GPA) dar. Andere offene Gesprächs- und Informationsforen unterm Kirchendach waren die „Schmiede“, der „Hauskreis Hugler“ und „Kontakte“. Darüber hinaus existierte in Potsdam eine größere alternative Kunst- und Jugendkulturszene.

Ab Ende 1988 war eine zunehmende Politisierung in der oppositionell-alternativen Szene zu beobachten, die sich auch aktionistisch manifestierte. So treten auf der Jugendwoche des Kirchenkreises im September fünf Potsdamer Gruppen auf, im November veranstaltet der Potsdamer Friedenskreis (für das MfS das „intellektuelle Führungszentrum“ der Kirchengemeinden) das regionale ökumenische Forum „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“, und im Dezember demonstriert die Antifa-Gruppe für inhaftierte Punks. Diese Entwicklung setzte sich im Folgejahr fort: Friedensgebete für die im Januar auf der Liebknecht/Luxemburg-Demonstration in Ostberlin Festgenommenen, im April das DDR-weite Treffen von Umweltschutz- und Stadtentwicklungsgruppen von Argus.

In dieser Chronologie darf auch nicht das erste, von Argus in Zusammenarbeit mit der AG Pfingstberg organisierte Pfingstbergfest „Kultur in der Natur“ vom 10. Juni unerwähnt bleiben. In ihm sieht heute mancher Akteur von damals den Beginn der „Wende“ in Potsdam. Denn dass es zum Aushang des inzwischen fast legendär gewordenen Veranstaltungsplakats des Grafikers und Argus-Aktivisten Bob Bahra kam und hier mehr oder weniger legal Umweltgruppen, alternative Bands und subversive Künstler vor den rund 1.500 Besuchern auftreten durften, wurde damals von vielen als Zeichen gewertet, dass doch noch „irgendetwas gehen könnte“.

Die Nachrichten über die politischen Veränderungen in Polen und Ungarn und die immer stärker werdende Ausreisebewegung – allein im Januar 1989 wurden im Bezirk Potsdam für 4.171 Personen Ausreiseanträge gestellt – schärften einerseits das allgemeine Bewusstsein für die landesinnere Krise. Andererseits ging mit dem massenhaften Weggang auch eine personelle Schwächung der oppositionellen Kräfte einher.

Es war die Kommunalwahl vom 7. Mai und ihre offenkundige Fälschung, die den Widerstand vor Ort entscheidend entfachte. Unabhängig voneinander entschlossen Mitglieder von „Kontakte“, Argus und des Potsdamer Friedenskreises, Wahlverlauf und Stimmenauszählung zu überprüfen. Die dabei festgestellten Unstimmigkeiten machte dann vor allem „Kontakte“, die allein 28 Wahllokale kontrolliert hatte, öffentlich. Die Gruppe erstattete im Juni in der Person von Pfarrer Hans Schalinski nach einer vergeblichen Eingabe an den Oberbürgermeister nicht nur Anzeige wegen Wahlfälschung, sondern führte auch regelmäßige Aufklärungs- und Informationstreffen in den Räumen der Friedrichskirche durch. Besucherzahlen wie am 31. Mai, als 150 Leute erschienen, verweisen auf eine nicht geringe öffentliche Resonanz.

Zwei Orte nehmen aus der frühen 1989er Akteursperspektive einen herausragenden Platz in Potsdam ein. Zum einen die Friedrichskirche am Weberplatz in Potsdam-Babelsberg. Hier fanden im September/Oktober die großen Informationsveranstaltungen der „Neuen Kräfte“ statt. In den Räumlichkeiten arbeiteten nicht nur Gruppen wie die „Schmiede“, der „Hauskreis Hugler“ oder „Kontakte“, sondern eröffneten auch Neues Forum und SDP ihre ersten Kontaktbüros.

Der zweite wichtige Ort ist die Erlöserkirche in Potsdam-West. Auch hier stellte mit Martin Kwaschik ein ansässiger Pfarrer die kirchliche Infrastruktur oppositionellen Aktivitäten zur Verfügung. Hauseigene Druckgeräte durften für Vervielfältigungen genutzt werden oder subversive Veranstaltungen stattfinden wie beispielsweise das von „tierra unida“ initiierte China-Klagetrommeln Ende Juni 1989.

Das MfS hielt Potsdam, Neuruppin und Brandenburg für Zentren des „Gegners“

Im Verlauf dieses Jahres politisierten sich immer mehr kirchliche Amtsträger im Bezirk – rund 25 Prozent verweigerten die Teilnahme an der Kommunalwahl – und wurden schließlich zu Multiplikatoren und Gründern der Bürgerbewegung, allen voran des Neuen Forums. Spürt man deren Aktivitäten nach, wird schnell deutlich, dass es im Bezirk Potsdam weit mehr gärte, als bislang behauptet: Bereits seit dem Sommer engagierten sich Pfarrer Gutzeit aus Marwitz (Kreis Oranienburg) und insbesondere Pfarrer Reiche aus Christinendorf (Kreis Zossen) aktiv für die Bildung von Initiativgruppen zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei. Pfarrer Lampe aus Zechlin (Kreis Neuruppin) bewarb als einer zwölf Erstunterzeichner seit dem 12. September „Demokratie Jetzt“. In Staaken organisierte Pfarrer Radziwill am 27. September eine Informationsveranstaltung des Neuen Forums.

Die SED-Bezirksleitung und das MfS, das im Juli 1989 bezirksweit rund 50 Leute als führende Personen der „inneren feindlich-oppositionellen Kräfte“ ausmachte, stuften Potsdam, Brandenburg/Havel und Neuruppin als Zentren des „Gegners“ ein. Für SED-Bezirkssekretär Günther Jahn handelte es sich, wie im Monatsbericht an Erich Honecker vom Mai 1989 zu lesen ist, bei diesen „Personengruppen“ wie zum Beispiel die sogenannte Friedrichskirchgemeinde „Kontakte“ Babelsberg, das „Jugendzentrum EV“ Neuruppin, die St.-Gotthardt-Gemeinde Brandenburg oder gar die „Anti-Skinhead-Liga Potsdam“ zum erheblichen Teil um „Ansammlungen von im Beruf gescheiterten und im Leben verkrachten Existenzen, die sich unter dem Dach der Kirche vereinen, von dort das Staat-Kirche-Verhältnis zunehmend belasten und sich zwischen unser Vertrauensverhältnis schieben.“ Zu ihrer besseren Kontrolle und Zersetzung bildete das MfS daher neben seinen zahllosen Überwachungsvorgängen gegen Einzelpersonen die politisch-operativen Schwerpunktbereiche „Quadrat“ für Potsdam und „Roland“ für Brandenburg/Havel, in denen separat etwa zwei Dutzend Personen wegen „Organisierung politischer Untertätigkeit“ erfasst wurden.

Doch trotz verschärfter Überwachung und Maßregelung – Rudolf Tschäpe, Schwerpunktperson in „Quadrat“, wird zum Beispiel zu 1.000 Mark Ordnungsstrafe wegen seiner Aktivitäten fürs Neue Forum verurteilt – breiten sich die Ideen und Forderungen der Neuen Kräfte aus: „Alles ist darauf gerichtet, uns Reformen aufzuzwingen [Beseitigung des Sozialismus]; unter dem Deckmantel von mehr Demokratie Pluralismus, als günstiges Mittel zum Zweck, aufzuschwatzen“, schrieben die SED-Agitatoren der Bezirksparteileitung am 19. September in angewidertem Ton, dem Tag, an dem Meinel, Tschäpe und der dritte Erstunterzeichner im Bezirk, der Brandenburger Krankenpfleger Jan Herrmann, das Neue Forum beim Rat des Bezirks anmeldeten.

Als sich zum 40. Jahrestag der DDR rund 2.000 Potsdamer trauen, einen Demonstrationszug im Stadtzentrum zu bilden – einzelne Oppositionelle hatten dazu via Handzettel und Mundpropaganda aufgerufen –, schlagen die Sicherheitsorgane noch einmal zu. Es kommt zur Einkesselung und gewaltsamen Festnahme von über 100 Personen. Auch in anderen Potsdamer Städten und Gemeinden werden am 6./7. Oktober Protestierende verhaftet. Es sollte jedoch die letzte große Gewaltmanifestation sein, die das SED-Regime im Bezirk befahl. Die gewaltlose Leipziger Demonstration der 70.000 zwei Tage später, das „Fanal von Leipzig“, leitete DDR-weit eine neue Phase des Herbstes ein. Die oppositionelle Klein- und Vorarbeit hatte sich ausgezahlt, der Durchbruch für die Protestbewegung war geschafft. Auch wenn im Verlauf des Oktobers viele neue Gesichter zu den Gruppen der Potsdamer Neuen Kräfte stießen, waren etliche alte Akteure auch weiterhin maßgeblich daran beteiligt, wenn es darum ging, Demonstrationen und Dialogveranstaltungen zu organisieren, den MfS- und SED-Apparat zu entmachten und aufzulösen, den „Rat der Volkskontrolle“ zu gründen oder am runden Tisch mitzuarbeiten. Selbst wenn sich dieses Engagement nicht im Ausgang der ersten Volkskammerwahl am 18. März 1990 widerspiegelte, wurde es doch am darauf folgenden 6. Mai honoriert, den ersten freien Kommunalwahlen, für die Herkunft und Profil von Einzelkandidaten eine besondere Rolle spielte: Neben der SPD mit 32 Prozent erreichten die Kandidaten der Bürgerbewegungen zusammen immerhin rund 17 Prozent.

Leider spiegelt sich diese Tatsache bislang so gut wie gar nicht in der regionalen Erinnerungskultur wider. Dabei war gerade in kleinstädtisch-kleinbürgerlicher Umgebung häufig noch mehr Mut und Entschlossenheit zum Widerspruch nötig als in der Anonymität der Großstadt. Die Landeshauptstadt Potsdam setzte in dieser Hinsicht nun ein Zeichen. So trägt der Platz vor der Erlöserkirche seit April 2008 den Namen des inzwischen verstorbenen Rudolf Tschäpe, eine Entscheidung, die die Stadtverordnetenversammlung einstimmig trug.

Dieser Text stammt aus dem Buch „Bürgerland Brandenburg. Demokratie und Demokratiebewegungen zwischen Elbe und Oder“, das am Mittwoch von Kulturland Brandenburg e. V. vorgestellt wurde. Verlag Koehler & Amelang, 192 Seiten, 16,90 €