Tränen lügen nicht

Im Musicaltheater Bremen gab es ein Kindercasting für die neue „Evita“-Produktion. Drei Besetzungen wurden gesucht, die am Anfang und am Ende des Stückes in weiße Nachthemden gekleidet ein Requiem auf die im Sarg liegende Evita singen sollen
Von Tim Ingold (Text)und Indra Wegener (Fotos)

„Schau mal kritisch hin, ob sich da irgendwo ein Steffi-Graf-Phänomen zeigt, ob da übertrieben ehrgeizige Eltern sind, die ihre Kinder um jeden Preis auf der Bühne sehen wollen. Da wird es bestimmt jede Menge Tränen geben.“ So weit die Vorgabe aus der Redaktion. Wird gemacht, mein Redakteur.

Beginn des Castings ist um 10 Uhr angesetzt. Gesucht werden 24 Kinder im Alter zwischen acht und zehn Jahren, die nach Möglichkeit von der Statur her jünger wirken sollten. Musikalisches Gefühl und ein wenig Praxis aus dem Musikunterricht in der Schule wären hilfreich, hieß es. Gesangsausbildung oder eine besondere Stimmlage würden nicht erwartet.

Um 10 Uhr 30 haben bereits zwölf Kinder vorgesungen, immer in Vierergrüppchen. Gerade werden die Nummern 13 bis 16 aufgerufen. Nummer 14, ein Mädchen, steht neben ihrer Mutter und hat ganz rot geweinte Augen. Ha! denke ich, es geht schon los! Gleich wird die Mutter auf sie einreden, wird sie unter Druck setzen: Willst du Schande über unsere Familie bringen? Alle werden mit dem Finger auf dich zeigen und dich eine Versagerin schimpfen! Ich zücke Block und Stift und harre gespannt der Standpauke. „Möchtest du lieber nach Hause gehen?“, fragt die Mutter. Nummer 14 nickt, nimmt die Hand ihrer Mutter, und weg sind die beiden. Verdammt.

Die nächsten vier Kinder gehen durch eine breite Glastür in den Castingraum. Ich gehe mit. In der Mitte des Raumes steht Carsten Bowien, der zweite musikalische Leiter, hinter einem Keyboard. Die Kinder bleiben in respektvollem Abstand vor ihm stehen. Ich mustere Bowien.

Dieser Mann hat unzweifelhaft diktatorische Züge, denke ich. Das ist ein gnadenloser Hund, ein Musiklehrer alter Schule, der bestimmt gerne mit Rohrstöcken auf zarten Kinderfingern herumklopft. Die Eltern, diese vom Ehrgeiz zerfressenen Bestien, stehen hinter der Glastür und beobachten geifernd, was ihre Kinder machen. Kapitulation gibt es nicht! Es wird gesungen bis zum letzten Kind!

Bowien begrüßt die Kinder und bittet sie, einzeln etwas vorzusingen. Jenny, etwa acht Jahre alt, schüttelt den Kopf: „Ich will nicht.“ Gleich wird Bowien explodieren, denke ich, der Kerl duldet keine Widerrede. „Okay“, sagt Bowien. „Und du, Efke, möchtest du was vorsingen?“

„Nee“, sagt Efke.

Der kleine Felix will auch nicht. Er ist ganz nervös, tritt von einem Fuß auf den anderen. Seine Mutter wird auch unruhig. Sie geht zum Spalt in der Glastür. Haha, jetzt gibt’s Saures, freue ich mich.

„Sing irgendein Weihnachtslied – oder was dir einfällt.“ Sie lacht. Felix singt irgendein Weihnachtslied. Nach zehn Sekunden unterbricht Bowien ihn. „Okay – gut. Danke. Jetzt kommt alle mal ein bisschen näher.“ Die Kinder scharen sich um ihn.

Schlauer Zug, so kann er ihnen gleich was hinter die Löffel geben, falls sie nicht spuren.

„Ich singe jetzt eine Zeile, drei Takte, ihr hört erst einmal zu, und wer mag, kann dann mitsingen. Alles klar?“ Die Kinder nicken. Bowien haut in die Tasten und singt: „Segne mich Eva, ich bin noch ein kleines Kind.“ Er singt das dreimal, dann kommen die ersten dünnen Kinderstimmchen dazu, ganz zögernd, teilweise aus dem Takt. Das war’s, denke ich, jetzt gibt’s ein Donnerwetter. Ich höre Bowien sagen: „Wollt ihr mich beleidigen?! Raus! Raus mit euch! Ich kann so nicht arbeiten!“ Stattdessen sagt er: „Gut! Gut! Weiter so!“

Ich traue meinen Ohren nicht. Dieser Bowien ist freundlich, er lächelt die ganze Zeit und lobt die Kinder auch noch. Diese verdammte Lusche, dieser Kinderversteher. Gibt es denn keine preußischen Tugenden mehr in diesem verkommenen Land? Daran ist nur die Demokratie schuld. Angewidert wende ich mich ab.

Ich zücke mein Diktiergerät und will die Kinder unabhängig von den Eltern befragen. Ich erwarte Geschichten von gnadenlosem Drill, von zerstörten Kinderseelen, von 98-Stunden-Wochen. Ohne Wochenende.

Auf der Treppe im Vorraum sitzen Aaron (acht) und Valentin (zehn) herum. Ich gehe gleich ans Eingemachte: „Hallo Jungs. War das eure Idee, hierher zu kommen?“ Valentin: „Ja.“ Aaron: „Also ich hab das im Radio gehört und dann wollte ich herkommen.“ Ich: „Und wenn ihr jetzt nicht genommen wärt, wär das schlimm?““Ach nö. Ist ja kein Drama.“

Ich bin baff. Mit so einer halbgaren Einstellung kann das ja nix werden mit der Karriere. Da fehlt doch der rechte Druck aus dem Elternhaus. Ich frage noch weitere Kinder. Die Interviews laufen immer gleich ab. “Wolltest du hierher kommen?“ „Ja.“ „Wäre es schlimm, wenn du nicht genommen wärst?“ „Nein.“

Da ist was Teuflisches im Gange, vermute ich. Wahrscheinlich haben die Eltern ihre Kinder per Gehirnwäsche auf solche Situationen vorbereitet: Wenn da einer vom Radio oder von der Zeitung kommt und dich fragt, ob du das freiwillig machst, dann sagst du gefälligst Ja! Sonst Beule!

Tja, wenn das gesellschaftlich akzeptierte Verhalten immer mehr in Richtung Mitgefühl und Unterstützung tendiert, muss man als diktatorischer Charakter halt verdeckt agieren. Respekt, wie gut die Eltern das hinbekommen haben. Die Kinder sind nicht mal nervös beim Lügen. Die lassen alles mit sich machen. Nur der stumpfe Blick würde verraten, dass hier ein vollkommen gebrochener Mensch spricht.

Mit Kontaktlinsen oder Augentropfen lässt sich auch dieses verräterische Indiz beseitigen. Da vorne steht die Evita-Produzentin Waltraud Meinecke. Es scheint ihr ein persönliches Anliegen zu sein, ein verklärendes Musical über eine Diktatorengattin zu inszenieren. Wie wäre es demnächst mit „Eva Braun - Das Musical“? Der von Bernd Eichinger produzierte Film „Der Untergang“ hat ja in puncto allgemeiner Akzeptanz eines solchen Stoffes bereits ordentlich Vorarbeit geleistet und es ordentlich menscheln lassen bei Adolf und Eva im Führerbunker.

Ich will jetzt wissen, wer sich diesen Horror hier ausgedacht hat. „War das Ihre Idee mit den Kindern?“ „Nun ja, das steht so im Skript. Dort sind allerdings Sechsjährige vorgesehen, das können wir aus Jugendschutzgründen nicht machen.“ „Meinen Sie nicht, dass eine enorme Belastung auf die Kinder zukommt, wenn sie jeden Tag auf der Bühne stehen müssen?“ „Sie stehen ja nicht jeden Tag auf der Bühne, deswegen casten wir ja drei Besetzungen, also steht ein Kind nur bei jeder dritten Vorstellung auf der Bühne.“ „Und wie ist das bei den Abendvorstellungen? Die sind ja erst um halb elf zu Ende, da müssen die Kinder ja ganz am Schluss noch das Requiem singen? Das ist doch bestimmt illegal!“ „Nein. Das Bremische Jugendschutzgesetz sieht vor, dass Kinder in diesem Alter mit entsprechender Betreuung bis 23 Uhr aufbleiben dürfen.“ „Und Geld gibt‘s vermutlich keins. Billige Arbeitskräfte, was?“ „Nein nein, die Kinder kriegen schon ihre Gage. Die tun ja richtig was, da sollen sie auch eine kleine Belohnung kriegen. Aha.

Jetzt ist es 12 Uhr, etwa 40 Kinder sind mittlerweile in dem Raum mit der Glastür gewesen und haben mit Carsten Bowien „Segne mich Eva, ich bin noch ein kleines Kind“ gesungen. Der arme Kerl. Aber lächeln tut er immer noch.

Zwischendurch haben er und Frau Meinecke sich immer mal wieder zu Beratungen zurückgezogen, haben ihre Favoriten festgelegt. Großen Andrang gab es nicht. Carsten Bowien hatte mit 200 Kindern gerechnet, tatsächlich sind wohl zirka 50 da gewesen. 20 davon wurden nicht ausgewählt.

Noch ein letztes Mal warte ich auf Tränenausbrüche, als Frau Meinecke die Namen der Auserwählten vorliest und die restlichen nach Hause schickt. Es bleibt alles trocken. Die Kinder ziehen sich stumm ihre Jacken an und gehen an der Hand ihrer Eltern zur Tür hinaus.

Was soll ich sagen, mein Redakteur? Ich habe mich nach Kräften bemüht, den Finger in die Wunde zu legen und ordentlich nachzubohren. Leider konnte ich beim besten Willen nichts Unmoralisches, Heikles oder gar Illegales an diesem Kindercasting finden. Übertrieben ehrgeizige Eltern und zurechtgedrillte Kinder gibt es sicherlich. Bei dieser entspannten und freundlichen Veranstaltung konnte ich nichts dergleichen entdecken.