Siechtum im Vergleich

Im Angesicht des Todes sind wir alle gleich. Laut „Bild“ gibt es aber charakterlich bedingte Geruchsunterschiede

Der edle Mensch erweist sich als edel gerade im Krankheitsfall. Er, der schlanke, groß Gewachsene empfängt seine Besucher trotz Schmerzen aufrecht im Bett, bedarf keiner Stütze. Sein Antlitz ist rein, sein Lächeln – je nach Bedarf – strahlend oder mild. Er riecht gut. Offen blickt er seinen ans Krankenbett geeilten Freunden wie seiner treu sorgenden Gattin ins Auge, spricht mit ihnen klar und deutlich, drückt ihnen zum Abschied – und sei es auch der letzte – fest die Hand. Er fürchtet nichts, hat nichts zu verbergen, sagt stets die Wahrheit, versteuert korrekt seine Einkünfte und unterhält ein Konto bei der Deutschen Bank. Weshalb genügend heimische Spezialisten ihn umsorgen.

Ganz anders der Bösewicht: Er misst nur 1.63, seine weiche Hand greift schlaff und zitternd nach der Hand der Besucher, seine wulstigen Lippen bibbern, seine nuschelnde Stimme fiebert. Sein kugeliger, gebeugter Körper muss gestützt werden. Er riecht nach Medikamenten, Puder, Diabetes und Magenkrankheiten. Maskenhaft grinst er die Besucher an. Seine Frau, angetan mit teurer Sonnenbrille und nobler Uhr, hat ihn schon vor Jahren verlassen und ist jetzt anstandshalber herbeigeeilt. Obwohl todkrank, erweist sich der Bösewicht als krankhafter Lügner, so dass nicht einmal klar wird, woran er leidet. In seinem alten, starren Hirn (Blutgerinsel, Schlaganfall, Verkalkung?) stecken die Zugangscodes zu den Milliarden auf den im Ausland angelegten Geheimkonten. Zur Behandlung muss er in eben dieses Ausland ausgeflogen werden.

Wie diese Gegenüberstellung beweist, haben die Bösen einen Buckel, Kleinwüchsige sind tückisch, feige und bis zum letzten Atemzug führen sie Unheil im Schilde. Sie haben einen elenden Tod verdient. Muss noch erwähnt werden, dass der Bösewicht über eine krumme Nase verfügt? Und dass seine Charakterisierung, das Werk zweier Kotzbrocken, gestern in einem deutschen Massenblatt erschienen ist, das angeblich den Kampf gegen den Rassismus auf seine Fahne geschrieben hat?

CHRISTIAN SEMLER