Besessenheit und Abscheu

Vom ewigen Streben nach Expansion – und sei es, indem man sich die Geräusche untertan macht: Der britische Autor John Griesemer liest im Abaton aus seinem Erfolgsroman „Rausch“, der tief ins 19. Jahrhundert taucht

Ungebrochener Technikglaube: Eines Tages, das weiß der Protagonist, wird das Signal das Rauschen übertönen

Zwei kleine Buchstaben trennen die deutsche Ausgabe von der englischen Originalfassung. Heißt John Griesemers jüngster Roman hierzulande Rausch, findet man dort Rauschen und Signale (Signal and Noise). „Wir sind geübt im Entziffern; wir können den Code so leicht lesen, als wäre er mit flüssiger Hand geschrieben ... WRUCKST SLE VSKQ MRWEF HEILIG HEILIG HEILIG?“ lesen die beiden einsamen Telegrafisten dem jüngst erfundenem Galvanometer ab. Der eine wird daraufhin seine Stelle kündigen, der andere harrt weiter aus, im Glauben, dass die Errungenschaften seines Bruders Chester Ludlow letztendlich den Sieg der Technik, des Signals über das Rauschen, herbeiführen werden.

Letzterer ist die fiktive Hauptfigur in einem Roman, der große technische Umbrüche in der Mitte des 19. Jahrhunderts beschreibt – und ihre Kehrseite, den Okkultismus, der im gleichen Zeitraum Blüten treibt. So unterschiedlich wie Telegraphie, Schifffahrt, Kabelverlegung, Kanalisation einerseits und Séancen und Phantasmagorien andererseits zu sein scheinen – sie werden doch von dem gleichen Rausch nach Expansion angetrieben. Ob man den Tod überwinden und mit den Verstorbenen reden will oder ein Kabel für Telegraphie von der alten zur neuen Welt quer durch den Atlantischen Ozean legt: Es liegt die gleiche Mischung aus menschlicher Besessenheit, Vision, Ehrgeiz, Gefühl, Liebe und Abscheu den Handlungen zugrunde. Und das macht den Roman Rausch von John Griesemer, der jetzt ins Abaton kommt, auch so lesenswert, lässt die knapp 700 Seiten äußerst kurzweilig werden.

Dass Technik von Menschen gemacht ist und in ihrer Zeit stattfindet, die so manches lose Ende aufnimmt und mit anderen Visionen zusammenfügt, bestimmt Thema und Struktur des Romans. Griesemer fand seinen Stoff übrigens buchstäblich auf der Müllhalde, als er dort beim Müllabladen auf die Zeitschrift Wired und in ihr den Hinweis auf die Verlegung des ersten transatlantischen Kabels fand. Es entstand die Idee zu einem Roman, in dem Fiktion und Wirklichkeit, Technik-, Zeit-, Liebens- und Lebensgeschichten sich überschneiden. So tauchen in der Geschichte jener Kabelverlegung eine ganze Reihe historischer Figuren auf – von Karl Marx, der beim Stapellauf des ersten Riesendampfers in eine Schlägerei gerät, bis zum Physiker William Thomson, dessen Erkenntnisse im Gebiet des Elektromagnetismus für die erste transatlantische Direktübertragungs-Kommunikation unschätzbare Dienste tat.

Dass die jüngst in der Physik entdeckten Schwingungen und Wellen sich auch im Okkultismus verbreiteten und dort beispielsweise von der Gattin Abraham Lincolns verfolgt wurden, ist ein kulturhistorisch nahe liegendes Phänomen. Einzig die fehlende Technikkritik ist ein Manko von Griesemers Roman – der geradewegs in die Euphorie des 19. Jahrhunderts eingetaucht ist und sein Fundstück sprachlich gebührend preist.

Doro Wiese

John Griesemer: Rausch. Hamburg: marebuch-Verlag 2003, 690 S., 24, 90 Euro.Lesung: Di, 18.11., 20 Uhr, Abaton