Die Schlangenlinie des Islam

taz-Serie „Islam in Berlin“ (Teil 8): In einer säkularisierten Stadt wie Berlin könne sich ein pluraler Euro-Islam entwickeln, hoffen westliche Islamwissenschaftler. Die Begegnung mit der Liberalität des Westens kann manche Gläubige aber auch radikalisieren

„Es gibt keinenZwang in der Religion“

VON PHILIPP GESSLER

Es ist Ramadân, und Muzaffer Andaç hat für den Nachmittag zum Tee geladen. In der Zehlendorfer Siedlung mit vielen kleinen Wohnungen im Grünen ist der Orient weit, der Islam fern. Doch in der Wohnung des türkischen Professors lebt diese Weltreligion. Ein Wandteppich mit Sprüchen des Propheten, ein Gebetsteppich, hastig zusammengerollt, in den Regalen viele Bücher über den Islam – nur die vier Kuchenstücke stören das fromme Bild: Ist im Ramadân nicht Askese Pflicht, von Sonnenauf- bis -untergang?

Der 73-Jährige lächelt, wie oft während des Gesprächs: Natürlich ist der Kuchen nur für den Gast – eine nicht ganz einfache Entsagung für den Gastgeber, dem man die Freude am Essen ansieht. Andaç lebt in der winzigen Einzimmerwohnung ein wenig wie ein Eremit, dem Studium und der Gottsuche hingegeben: Der Geologe, der 1953 erstmals nach Deutschland kam, um hier zu promovieren, lebt fern seiner Familie, um sich seit zehn Jahren ganz seiner neuen Sendung zu widmen. Er will den Koran studieren und den Islam den Deutschen vermitteln. Mehrere Bücher hat er dazu schon geschrieben. „Der Kern des Islam“, sagt Andaç, sei die Einsicht, dass der Mensch durch die Liebe Gottes selbst Liebe entwickeln könne, in sich, für andere. „Es gibt keinen Zwang in der Religion“, zitiert er den Vers 256 der 2. Sure. Ist dies der sanfte Euro-Islam?

Berlin gilt nicht nur unter katholischen Fundamentalisten wie etwa dem Kölner Kardinal Joachim Meisner als gottlose Stadt. Jahwe, Gott und Allah haben es schwer hier, der amerikanische Soziologe Peter L. Berger nannte die Spreemetropole einmal die „Welthauptstadt des Atheismus“. Wie wirkt sich das an Religion wenig interessierte Umfeld auf den Glauben an Allah und seinen Propheten Mohammed aus? Fallen Muslime ob des leeren Himmels über Berlin leichter vom Glauben ab? Was heißt das für den Euro-Islam, das große Schlagwort der letzten Jahre, immer bemüht, wenn es um eine Hoffnung gegen die Fundamentalisten im Islam geht, die mit den rauchenden Türmen des World Trade Centers ein Fanal setzten: Ist der plurale Euro-Islam nur ein frommer Wunsch?

Georges Khalil nennt es nicht so, aber wenn er sagt, der Euro-Islam sei „eine modische Formel“, weiß man, wohin die Reise geht. Khalil ist Koordinator des Arbeitskreises „Moderne und Islam“ am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Wer mit ihm redet, erhält in gut sokratischer Tradition mehr Fragen als Antworten. In Europa, das sagt er dann schon, seien für Muslime wegen der nicht selten autoritären Regime der arabischen Welt die Diskussionsspielräume größer. Dies ermögliche mehr Vielfalt bei den Facetten des Islam – hin zu einem reformierten Islam ebenso wie zu einem radikalen.

Aber was sei schon „liberal“?, fragt Khalil. Manche islamische Volksfrömmigkeit vom Lande etwa könne so bezeichnet werden, während der ein oder andere national orientierte Islam, nach Europa importiert, eher eng sei. Als Euro-Islam könne man beispielsweise die muslimischen Diskussionen in Europa bezeichnen, bei denen es um eine Auseinandersetzung mit den Problemen von Muslimen in der Diaspora und einer modernen Zivilisation gehe. Der Austausch mit der Moderne in Europa aber sei unter muslimischen Gelehrten ein permanenter Prozess seit Jahrhunderten – und „sehr profilierte Positionen“ freier Geister finde man auch in der arabischen Welt, ziemlich weit weg von Europa. Einer der Väter der islamistischen „Moslembrüder“, Sayyid Qutb, habe sich in den USA radikalisiert, so Khalil. Die Begegnung mit der Liberalität des Westens kann also auch nach hinten losgehen.

Peter Heine, Islamwissenschaftler an der Humboldt-Universität, kann einen Euro-Islam „noch nicht“ erkennen – aber irgendwann, vielleicht in einer Generation, werde es einen europäischen Islam schon geben, genauso wie ein indonesischer, türkischer oder schwarzafrikanischer Islam existiere. Die neue Umgebung in einer Großstadt mit geringer sozialer Kontrolle und vielen Ablenkungsmöglichkeiten stelle neue Fragen an den Islam. Und der habe es immer verstanden, auf neue Fragen neue Antworten zu finden. Nicht wenige junge Muslime türkischer Herkunft beklagten sich bereits, dass die aus der Türkei für meist fünf Jahre entsandten Imame der türkischen, quasistaatlichen Ditib-Organisation keine Ahnung vom Leben in Deutschland hätten.

Der entstehende Euro-Islam, so der Professor, werde flexibler sein, schneller auf die Veränderungen in der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft reagieren. Und er werde kooperativer sein, da, nach Niklas Luhmann, jede Religion marginalisiert werde, die sich von der Gesamtgesellschaft abzukoppeln versuche. In Sachen Familienplanung, Aids-Abwehr oder Gentechnik sprächen Vatikan und die wichtige Kairoer Al-Azhar-Universität oft mit einer Stimme, so Heine. Die wichtigsten Zentren muslimischer Theologie seien heute doch neben Kairo und Kuala Lumpur auch Paris, London und Kanada. Das Denken des Okzidents ist längst im Orient angekommen.

Aber wie verändert das das religiöse Leben von Muslimen an der Spree? Faruk Șen, Direktor des Zentrums für Türkeistudien (Essen/Berlin), gehört zu den wenigen, die das empirisch zu ergründen versuchen: In einer neuen Umfrage unter den türkischstämmigen Muslimen hierzulande stellt er fest: Fast drei Viertel der Befragten bezeichnen sich selbst als religiös. „Mit zunehmenden Alter steigt die religiöse Bindung“, so Șen – die Folge: „Je länger die Befragten in Deutschland leben, um so eher fühlen sie sich religiös.“

Religiöse Handlungen (siehe rechts), so Șen, würden von der Mehrheit auch der Jüngeren praktiziert, selbst wenn sie sich selbst nicht als ausgesprochen religiös definierten. An solchen Frömmigkeitsformen hielten demnach auch junge Muslime als einem Teil ihrer Identität fest. Ein Beispiel: „Die Einhaltung der Speisevorschriften ist den Befragten zwischen 18 und 29 Jahren genauso wichtig wie denjenigen über 60 Jahren – mit einer Zustimmung von je 89 Prozent.“ Solche Phänomene seien „ein erster deutlicher Hinweis darauf, dass sich tatsächlich eine neue authentische Interpretation des Islam in der Migration entwickelt“, so Șen. Sein optimistisches Fazit: „Die quasi erzwungene Modernisierung der Lebensweisen in der Migration hat ebenso wenig in einer Verfestigung eines traditionellen Religionsverständnisses wie in einer Abkehr vom Islam resultiert – sondern in religiös-kulturellem Wandel.“

Ahmad (32) kam mit sieben Jahren aus dem Libanon nach Deutschland. Der Muslim stammt aus einer religiösen Familie, die Eltern beten regelmäßig. Dennoch kann sich der Verlagskaufmann nicht erinnern, jemals in einer Moschee gewesen zu sein, geschweige denn gebetet zu haben – „läuft nicht, gibt’s nicht“, meint er ein wenig schnoddrig. Das Fasten betreibe er schon deshalb nicht, weil er regelmäßig essen müsse, um keine Bauchschmerzen zu bekommen. Schweinefleisch aber esse er noch immer nicht („Ekle ich mich einfach davor“) – auch an ein paar Regeln der Volksfrömmigkeit hält er sich. Den Stinkefinger etwa zeige er nur zum Boden hin, und Schuhe lege er nie so hin, dass die Sohlen nach oben zeigen. Der Grund: Allah im Himmel soll keinesfalls gemeint sein können. Nicht zu vergessen die Sache mit der haddsch. Die Pilgerreise der Eltern nach Mekka sponserten Ahmad und seine acht Geschwister massiv.

Der Nachmittag neigt sich dem Ende zu, Professor Andaç hat noch immer nichts getrunken oder gegessen. Mittlerweile ist er bei den ganz großen Linien angekommen. Die Aufklärung sei im Islam „eingeschlafen“, sagt er. Während sie seit dem 18. Jahrhundert in Europa blühte und den Kontinent säkularisierte, habe sich der Islam in Reaktion darauf mystifiziert, den Glauben gepflegt, doch den Fortschritt vernachlässigt – im Gegensatz zu Europa, wo es genau umgekehrt gewesen sei. Nun komme es durch die migrantischen Muslime zu einem Ausgleich: Europa entdecke die Religion wieder, die islamische Welt finde Anschluss an die Technik. Und beide Entwicklungen führten schließlich zu einem Frieden der Religionen, eine „sinusoidale Entwicklung“, sagt Andaç gut naturwissenschaftlich: eine Schlangenlinie, die trotz Ausschlägen nach unten insgesamt nur eine Richtung habe: nach oben.