Weg gewischte Türme

Was bietet das Land Bremen nach der Präsidentenwahl? Zum Beispiel den „Tag der Gnade“ am Bremerhavener Stadttheater, weiße Rußpartikel auf der Spielfläche inklusive

Kann der 11. September 2001 ein „Tag der Gnade“ sein? Für Ben in Neil LaButes gleichnamigem Kammerspiel ist der Tag, an dem mit der Zerstörung der Twin Towers mehr als 3.000 Menschen umgebracht wurden, deshalb ein Gnadentag, weil er mit seinem alten Leben abschließen kann: Denn seine Frau und die beiden Töchter werden ihn für tot halten, und er selber kann mit seiner Geliebten irgendwo anders neu anfangen.

Ben hatte unmittelbar vor dem Zeitpunkt des Attentats sein Büro im World Trade Center verlassen, um mit Abby zu sprechen. Er will ihr etwas beichten. Warum verknüpft Neil LaBute die große Katastrophe mit einem alltäglichen Liebesgerangel? Hat er sich hier überhoben, indem er den unvergesslichen Schreckensakt auf der Suche nach einem zündenden Plot einfach instrumentalisiert? Oder spitzt er nur gleichnishaft zu, wie sich der unscheinbare kleine Beziehungsstress vor dem historischen Hintergrund zu unbekannter Größe aufschaukelt?

Regisseur Michael Jurgons gibt in seiner Bremerhavener Inszenierung im Kleinen Haus des Stadttheaters keine eindeutige Antwort. Zwar lässt er zu Beginn des Stücks in den kalten, schwarzen Bühnenraum – wie vom Autor verlangt – weiße Rußpartikel die Spielfläche berieseln, aber alle anderen Hinweise auf Ort und Zeit sind ins Zeichenhaft-Groteske verfremdet und verkleinert. Da rollt zum Sirenenlärm eine Spielzeugfeuerwehr über die Bühne und aus einer Kreidezeichnung der Skyline auf der rückwärtigen Bühnenwand wird Ben irgendwann die beiden Türme wegwischen.

Dieser Mann will seine Familie verlassen. Die Liebe zu seiner Frau ist längst erloschen, nur die beiden Kinder halten ihn noch. Während Ben einfach untertauchen will, verlangt Abby von ihm, reinen Tisch zu machen und sich dem Konflikt mit seiner Frau zu stellen. Im schnellen Schlagabtausch waschen die beiden ihre schmutzigste Wäsche, schlagen sich ihre Charakterschwächen und ihre Sex-Praktiken um den Kopf. Im Büro sind sie keine Partner, sondern Ben ist Abby als seiner Chefin untergeben. Was also haben sie miteinander? Eine beliebige Sex-Affäre oder eine Liebesbeziehung?

LaBute lässt die beiden in kraftvollen und pointierten Dialogen aufeinander einreden, und Michael Jurgons forciert das Tempo noch einmal. Das Gespräch ist ein Kampf, ein Neben- und Gegeneinander, in dem sich die Sprechenden permanent ins Wort fallen, um sich gelegentlich und überraschend zuzuhören. Der Schauspieler Matthias Pantel (neu im Ensemble) spielt gekonnt alle Facetten eines Macker- Mannes aus, der auch seine ganz sanften Seiten hat, während Regina Welz aus dem frostig-zynischen Tonfall einer stets kühl- distanzierten Dame kaum herauskommt.

Mitten im streng choreografierten Spiel gibt es einen minutenlangen Kuss, der offen lässt, was er zeigen will: Eine flüchtige Berührung oder eine Sehnsucht nach Nähe, die von allen Worten immer wieder erschlagen wird?

Hans Happel

Weitere Vorstellungen: 6., 11., 11., 28.11.