Den Endspurt verpasst

Die Demokraten müssen sich selbst die Schuld an der Niederlage geben: Gegen Bushs Themen hatten sie alte Konzepte, alte Gesichter und keine Vision

AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK

John F. Kerry hat die Wahl verloren. Der Senator aus Massachusetts wird nicht 44. Präsident der USA. Auch die verzögerte Stimmauszählung in Ohio wird daran nichts mehr ändern. Gestern um 11 Uhr Ortszeit war das auch Kerry klar. Er griff zum Telefonhörer, rief George Bush an und sagte: „Glückwunsch, Mr. President!“ Das Gespräch sei kurz gewesen, berichten Gewährsleute.

Es hat also alles nichts geholfen. Rockstars wie Bruce Springsteen, die für Kerry auf die Bühnen sprangen, konnten offenbar junge Leute auch nicht ausreichend ansprechen. Die in der US-Geschichte einmalige Wählermobilisierung erreichte nicht die traditionelle Basis wie Latinos und Afroamerikaner. Auch die Rekordspenden – die Demokraten kassierten am Ende sogar mehr Geld als die Republikaner – halfen nicht. Und all die Orakel vom nahen Sieg, die durch den Gewinn der Baseballmannschaft Red Sox aus Boston ausgelöst wurden, erfüllten sich nicht.

Das Image des „Comeback-Kid“, des im Endspurt Siegreichen, das Kerry nach seinem unerwarteten Erfolg bei den Vorwahlen im vergangenen Januar in Iowa anhaftete, ist plötzlich verblasst. Die Wahl 2004 hat erneut bewiesen, dass kein Senator – und schon gar keiner aus dem liberalen Neuengland – im derzeitigen politischen Klima Amerikas das Weiße Haus erobern kann. Lag es an der Person John Kerry, der trotz gewonnener TV-Duelle am Ende nicht genügend Amerikaner vom Hocker riss? Wurde die Situation im Land falsch eingeschätzt? Wurden die Themen falsch eingeschätzt, die der Bevölkerung auf den Nägeln brennen? Diese Fragen werden Strategen und Experten zu beantworten versuchen.

Einige Lektionen zeichnen sich schon ab. Demnach ist es Kerry nicht gelungen, die eigene Basis – darunter vor allem die 18- bis 29-Jährigen, die Schwarzen, Latinos und Frauen – hinreichend von sich zu überzeugen. Die große Enttäuschung: Viel weniger Jungwähler als erhofft gingen wählen. Die millionenfachen neuen Wählerregistrierungen hatten auf eine andere Entwicklung schließen lassen.

Erste Untersuchungen zu den Topthemen verblüfften die Meinungsmacher. Demnach standen in der Reihenfolge Moralfragen, Wirtschaft und Antiterrorkampf auf der Tagesordnung. Die Bürger entschieden somit anhand der von den Republikanern erfolgreich besetzten kontroversen Themen Homoehe, Abtreibung und Bushs Religiosität.

Im Vergleich Bush, der es in den vergangenen vier Jahren meisterhaft vermochte, die Republikaner zu vereinen, rief Kerry mit seinen Entwürfen wesentlich mehr Widerspruch in den eigenen Reihen hervor. In zentralen Fragen, wie etwa dem Irakkrieg, blieben die Demokraten gespalten. Dem liegt ein strukturelles Problem zugrunde. Die Demokraten sind eine oftmals zersplitterte und schlecht organisierte Sammlungsbewegung, während die homogeneren Republikaner einer militärischen Disziplin folgen.

Die Demokraten präsentieren sich überdies als die weniger risikofreudige und visionäre Partei. In ihrem Verlangen, die Errungenschaften der Sozialstaatsprogramme des New Deal und der Great Society zu bewahren, verteidigen sie zum Teil überholte Programme aus dem Industriezeitalter, die den gewandelten Verhältnissen einer Dienstleistungsgesellschaft nicht mehr Rechnung tragen.

Kerrys Niederlage ist diesbezüglich nicht ohne Ironie, passten doch bei ihm viele der alten demokratischen Markenzeichen nicht mehr: Er wollte den Haushalt ausgleichen, dazu – wenn nötig – die staatlichen Ausgaben kürzen, er sprach über seine Religion, ging demonstrativ auf Jagd, hatte enge Verbindungen zur Wall Street und stand außenpolitisch der alten republikanisch-realpolitischen Schule eines Colin Powell oder James Baker nahe. Klassisch liberale Haltungen waren das nicht.

Den Demokraten blüht nach der Niederlage – Bush dürfte mit einem Abstand von über 3 Millionen Stimmen auch im Popular Vote gewinnen – nun entweder eine Ära politischer Depression, oder sie ringen sich zu einem Neuanfang durch wie die Republikaner 1964, als ihr Kandidat Barry Goldwater gegen Lyndon Johnson verlor. Dass Kerry zunächst zögerte, Bush anzurufen, war der verzweifelte Versuch, die Niederlage nicht zu früh anzuerkennen.

Wollen die Demokraten wieder gewinnen, müssen sie bei den Republikanern in die Lehre gehen. Diese bauten nach 1964 eine schlagkräftige, gut organisierte, in Gesellschaft und Medien präsente Partei auf, deren Fühler in die Kirchen reichen und die sich geschickt konservativer Radio-Talkshows und einflussreicher Denkfabriken zu bedienen wussten. Die Demokraten hingegen ließen erst nach der Schlappe 2.000 Ansätze in diese Richtung erkennen.

Die Frage ist, welche Instinkte bei den Demokraten zuerst erwachen. Gut möglich, dass sie sich erst mal zerfleischen und bei der Politikgestaltung ins Abseits manövrieren. Ohnehin wird es schwer, der dominanten Macht der Republikaner in Kongress und Regierung etwas entgegenzusetzen. Vielleicht obsiegen Strategen, die der Partei eine Rosskur verordnen und einen Neuaufbau einleiten.

Da stellt sich jedoch das nächste Problem: frische Gesichter. Ob John Edwards, der seinen Senatssitz aufgegeben hat, weiter eine entscheidende Rolle spielen kann, ist unklar. Die Hoffnungen ruhen damit vielleicht auf Hillary Clinton und Barack Obama, dem charismatischen Shootingstar aus Illinois und frisch gewählten ersten und einzigen schwarzen Senator. Beide wurden in den Hinterzimmern auch schon als Dream-Team für 2008 gehandelt.