Intelligentes Kaleidoskop

Figuren entblößen, ohne ihnen die Haut abzuziehen:Gilla Cremer porträtiert im St. Pauli Theater die Knef

Sie gehört nicht zu denen, die es sich gerne leicht machen. Da trifft sich Gilla Cremer mit Hildegard Knef, an die sie in ihrem Bühnensolo So oder So, derzeit im St. Pauli Theater zu sehen, erinnert, in die sie sich geradezu verwandelt. Die Schauspielerin, die sich seit mehr als 15 Jahren an einer Reihe widersprüchlicher Frauenfiguren reibt, fasert jetzt das Leben von „Deutschlands letzter Diva“ auf. Gerne sang „Die Knef“ vom Tapetenwechsel und sorgte in Karriere und Privatleben für etliche Brüche. So empfahl sie etwa den Berufswechsel, falls der Spaß beim Job verschwände.

Gilla Cremer besorgt sich Abwechslung durch die irisierende Unterschiedlichkeit ihrer Bühnenfiguren. Immer ist sie dabei auf der Suche nach der wahren Identität der vorgestellten Frauen. Sie beschreitet einen schmalen Grat zwischen Einladung zur Identifikation und Ausstellungsstück. Sie seziert bei lebendigem Leibe, und man sieht atemlos zu. Man klebt an ihren Lippen, wenn sie Knefs Erinnerungen an die letzten Kriegstage gradezu nüchtern spricht. So wie in ihrem letzten Solo Meeresrand von Véronique Olmi bei der Erzählung über einen Kindermord durch eine verzweifelte Mutter.

Gilla Cremer schafft es, ihre Protagonistinnen zu entblößen, ohne ihnen die Haut abzuziehen. Höchst verantwortungsbewusst, akribisch und intelligent. Sie wahlweise sich selbst entlarven zu lassen, wie vor Jahren die Frau eines KZ-Kommandanten in Die Kommandeuse. Oder eine liebevolle Studie zu schaffen wie über die Knef, ohne Widersprüchlichkeiten zu verschweigen. Eben noch die ganz junge Ahnungslose in New York, die die am Sabbat verdunkelte Küche der Schwiegereltern für das Resultat einer Stromsperre hält. Dann gereifter Star, der den Deutschen eine Revolution wegen eines Skandalfilms zutraut, nicht aber wegen Gaskammern.

So gelingt Gilla Cremer im Reigen ihrer Soli unter der Hand auch ein zusehends komplexeres Porträt deutscher Befindlichkeiten. Es ist ein mutiger Kraftakt, sich, wie in „So oder so“ eine ganze Biografie einzuverleiben. Aber er gelingt unter Hartmut Uhlemanns Regie hervorragend. Immer wieder unterbricht Gilla Cremer ihr sich verdichtendes knefsches Rollenspiel durch kleine Kommentare. Überzeugend und eigen im Gesang ist sie unter Gerd Bellmanns einfühlsamer Begleitung am Flügel, wenn sie Gassenhauer anreißt wie „Für mich soll‘s rote Rosen regnen“. Was es im St. Pauli Theater am Ende der Premiere dann auch tat.

Oliver Törner

nächste Vorstellungen: 6.-9.11., 20 Uhr, St. Pauli Theater