Das verrückte Dorf Diepensee

Der Ort in Brandenburg muss dem Flughafen Schönefeld weichen. Für die Diepenseer wurde bei Königs Wusterhausen ein neues Dorf aus dem Boden gestampft. In Alt-Diepensee trotzen ein paar standhafte Bewohner den Baggern, in Neu-Diepensee trotzen alle der Wehmut ■ von OLIVER MARQUART

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Dieser Herbst ist wohl der letzte für das alte Diepensee. Der trübe Himmel unterstreicht die Untergangsstimmung, die über dem Dorf liegt. Eine gespenstische Ruhe hat sich breitgemacht. Kein Hundegebell, kein menschlicher Laut durchbricht die Stille, außer ein paar vorbeifahrenden Autos. Die Vögel hört man natürlich. Sie werden diesen Platz bald ganz für sich haben – nur um ihn kurz darauf wieder hergeben zu müssen, endgültig, wenn die Bauarbeiten für den Ausbau Schönefelds beginnen.

Ein weiteres Geräusch ertönt. Die Mittagspause der Bauarbeiter ist vorbei. Sie fahren mit den Rohdungsarbeiten fort. Der Bagger frisst sich gierig in schöne, alte Apfelbäume, die im Vorgarten eines verlassenen Hauses stehen, die Fenster sind mit Brettern verrammelt. Nach kurzer Zeit ist der Garten ein Stoppelfeld aus Baumstümpfen. Vor anderen Häusern wuchert es noch üppig, Apfelbäume biegen sich unter der Last reifer Früchte, die niemand erntet. Auf dem Boden gären heruntergefallene Äpfel.

In der Karl-Marx-Straße stehen entkernte Mietblöcke. Die teuren Lärmschutzfenster wurden herausgenommen, man blickt direkt in ehemalige Wohnzimmer. Der Anblick erinnert an ein großes Puppenhaus, die Kachelöfen stehen noch in der Ecke, auch die Tapete klebt noch an den Wänden. Vor dem Wohnblock steht ein Mann in den Fünfzigern und betrachtet nachdenklich das, was von seiner ehemaligen Heimat übrig geblieben ist. Siebzehn Jahre hat Wolfgang Kreisch hier gewohnt. Schon vor zwei Jahren ist er weggezogen, statt ins neue Diepensee nach Berlin-Bohnsdorf. Wegen der S-Bahn-Station dort. „Wir brauchten die Verkehrsanbindung.“ Sein Sohn arbeitet am Flughafen Tempelhof und seine Frau in einem Krankenhaus. Etwas Bestimmtes zu erledigen hat er hier nicht. „Ich wollte gucken“, sagt er leise. „Ich habe gehört, dass der Block jetzt abgerissen wird und wollte mal sehen, wie weit sie sind. Ist ein eigenartiges Gefühl.“

Geht man die Straße weiter, kommt man zunächst an leeren Garagen vorbei. Weiter ortsauswärts stehen gemütliche Bauernhäuser. Die verwilderten Gärten verleihen ihnen einen besonderen Charme. Wie verwunschene Orte, an denen alte Märchen spielen. Einige sind noch bewohnt, nicht alle Häuser in Neu-Diepensee sind schon fertig. Nach wenigen Minuten kommt eine misstrauisch dreinschauende Bewohnerin an den Gartenzaun und will wissen, was man hier macht. „Wissen Sie, wie das ist, wenn hier ständig Gaffer mit Kameras durchlaufen? Man fühlt sich wie im Zoo“, beschwert sie sich. Nicht ganz zu Unrecht. Das Geisterdorf zieht einige Schaulustige an. Auf dem Parkplatz im ehemaligen Dorfzentrum steht ein Auto mit Berliner Kennzeichen. Ein Rentner erklärt freimütig: „Ich war gestern schon da. Heute bin ich noch mal gekommen, um Fotos zu machen. Steht ja alles nicht mehr lang hier.“

Aber nicht alle wollen akzeptieren, dass Diepensee verschwinden muss. Direkt am Ortseingang wohnt Erwin Birkoben. Das Gelände des Flughafens beginnt zwanzig Meter vor dem Gartenzaun seines Hofes. Der Ostpreuße ist einer von zweien, die nicht vorhaben, Diepensee zu verlassen. Der andere, Heiko Saßenberg, betreibt einen Reiterbedarfsladen. Er ist für die Presse nicht zu sprechen. Auch Birkoben hat kein Interesse an Öffentlichkeit. „Waren alle schon hier. Das bringt doch nichts. Kommt der Flughafen denn nun?“ Das ist das Einzige, was ihn interessiert. Die Zeit läuft für den 74-Jährigen. Solange er in seinem Haus bleibt, kann es nicht abgerissen werden. Der Rentner vermietet weiterhin acht Zimmer, hauptsächlich an Geschäftsleute und Arbeiter auf der Durchreise.

Die mit dem Abriss beschäftigten Arbeiter gehören nicht zu seinen Gästen. Gegen Nachmittag macht sich ihr Bagger über Stallungen im Ortskern her. Stück für Stück verschwinden Mauern und Dach, eine gigantische Staubwolke bleibt zurück. Nicht weit davon stehen die Reste vom dörflichen Imbiss. Nach der Schließung der Dorfschenke 1985 war hier ein wichtiger Treffpunkt. Die Wände der verfallenden Baracke sind mit vergilbten Aufklebern bedeckt, die vor allem ein Motiv zeigen: Flugzeuge. Dazu Werbung für Flugtechnik, Lufthansa und den Flughafen Schönefeld. Die Einwohner Diepensees konnten kaum ahnen, dass der Nachbar eines Tages der Grund für das Verschwinden ihres Dorfes von der Landkarte sein würde.

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Freundlich bescheint die Herbstsonne den nigelnagelneuen Ortsteil von Königs Wusterhausen. Neu-Diepensee wirkt wie ein gerade ausgepacktes Spielzeugdorf. Artig reihen sich Einfamilienhäuser in verschiedenen Farben und Größen aneinander, alle frisch verputzt, keines älter als ein Jahr. Das neue Diepensee versprüht den Charme eines westdeutschen Neubaugebiets.

Der stellvertretende Ortsbürgermeister Helmut Mayer steht zwischen Neubauten und schaut den sanft ansteigenden Hang hinauf. Mayer erzählt, wie die Bewohner Diepensees den Standort ihres neuen Dorfs selbst ausgesucht haben. „Mit drei Bussen sind wir durch die Gegend gefahren und haben zehn bis zwölf Standorte angeguckt. Wir standen genau hier, als wir uns für diesen entschieden haben.“ Die Bauarbeiten begannen Anfang 2003. Jetzt ist das neue Diepensee so gut wie fertig.

In der Ortsmitte verpassen Bauarbeiter dem Gemeindezentrum den letzten Schliff. Im alten Dorf gab es dafür nur den alten Gutshof, jetzt steht ein großer, schmucker Klinkerbau zur Verfügung. Das Geld dafür haben die Entschädigungen der Flughafengesellschaft gebracht. In die Mauern sind Steine aus den bereits abgerissenen Tagelöhnerhütten im alten Diepensee eingebaut. „Ein kleines Stück Erinnerung“, sagt Mayer leicht melancholisch. Trotz der nüchternen Blick-nach-vorn-Haltung, mit der er die Neuerungen und Veränderungen kommentiert, blitzt doch hier und da ein wenig Sentimentalität auf. Eine Tatsache, die Mayer auch gar nicht bestreiten will. „Es ist schon schwer für manche, gerade für die Älteren. Wenn man sein ganzes Leben an einem Ort verbracht hat, fällt es nicht leicht, da wegzumüssen. Aber es ging eben nicht anders. Die meisten sind mittlerweile in ihrer neuen Heimat angekommen.“

Der dreistöckige Bau für altersgerechtes Wohnen steht an der Hauptstraße. Er ist ein soziales Vorzeigeobjekt, aus Landesfördermitteln und den Entschädigungen finanziert. Die Straßennamen haben die Bürger auf einer Einwohnerversammlung beschlossen. Immerhin zwei haben sie aus ihrem alten Dorf mitgenommen: den „Flutgraben“ und „An der Koppel“. Ein weiteres Stück Erinnerung.

An einer prächtigen Allee saugt ein etwa 40-jähriger Mann Laub von seiner halb fertigen Einfahrt. Er beklagt, dass der dörfliche Charakter verloren gegangen sei. Aber es überwiegt der Pragmatismus. „Man muss sich eben arrangieren und einleben. Einige haben nach dem Umzug hohl gedreht, die haben es nicht verkraftet, plötzlich Geld in die Hand bekommen zu haben.“ Gegenüber steht das neue Feuerwehrhaus, das – man ahnt es schon – mit Hilfe der Entschädigung gebaut wurde. In Alt-Diepensee musste ein Geräteschuppen genügen, hier reicht es für einen Kasten, der auch eine mittlere Kleinstadt zieren würde.

Aber nicht alle Einwohner haben sich durch den Umzug wirtschaftlich verbessert. „Früher hatte ich einen Stall, jetzt passt nicht mal mehr mein Fahrrad in den Keller“, sagt eine alte Frau, die vor dem Mietshaus ihren kleinen Garten für den Winter präpariert. 32 Jahre lebte sie im alten Diepensee. Im Vergleich zu den Ost-Platten dort wirken die neuen Mietshäuser freundlicher und heller. „Das neue Dorf ist zwar ganz schön, aber bei mir ist es kalt. Die Heizung geht nicht richtig“, beklagt die Frau. Dabei hat sie jetzt Zentralheizung, davor waren es Öfen. Auch eine Nachbarin hat sich noch nicht so richtig eingelebt. „Hier ist alles moderner. Diepensee hat seinen ländlichen Charakter verloren“, sagt sie. In Selbstmitleid verfällt die ältere Dame, die aus Schlesien stammt, jedoch nicht. „Man muss es nehmen, wie es ist“, so ihr nüchternes Fazit.

Mittlerweile ist es Abend geworden. Bürgermeister Mayer steht am Ortsrand und lobt den großen Grünstreifen, der Diepensee umgibt. Auf den habe man bestanden, als „territoriale Abgrenzung“ zum nahe liegenden Wohngebiet. „Die Einwohner fühlen sich wohler damit. Selbstständiger.“ Mayers persönlicher Blick in die Zukunft ist nüchtern: „In zehn bis zwanzig Jahren wächst das sowieso zusammen. Die jungen Leute sehen das ja auch nicht so eng wie die Alten.“ Platz für Nachkommen gibt es genug, zwischen den Neubauten finden sich noch zahlreiche Baulücken. Ob das allerdings ausreicht, die Jugend vom Wegziehen abzuhalten, ist fraglich.