Fast schon eine zweite konservative Revolution

Nicht der Irakkrieg und auch nicht die fehlenden Jobs: Die Präsidentschaftswahlen entschieden sich an der Frage der moralischen Werte

WASHINGTON taz ■ Es war das Wort des Tages am Morgen danach: „Moralische Wertvorstellungen“. Diese etwas schwammige Kategorie, nicht Krieg oder Jobs, interessierte über zwanzig Prozent der Amerikaner zu allererst bei der Frage, wem sie ihre Stimme geben würden. Das stellten Analytiker und Kommentatoren verdutzt nach dem klaren Wahlsieg von George W. Bush fest.

Es ist diese Kategorie, die Amerika noch stärker teilt als vor vier Jahren. Damals gab es bei der Wahlgeografie noch blaue Flecken im roten Meer. Rot steht in der US-Farbenlehre für die Republikaner, blau für die Demokraten. Heute bilden nur die Westküste, Neuengland und die Metropolen an den Großen Seen noch blaue Ränder eines dominant roten Kontinents. „Es ist der größte Riss in Amerikas jüngster Geschichte“, sagt Gary Bauer, Präsident der konservativen Gruppe „American Values“. Und die New York Times attestiert, „das Misstrauen zwischen dem säkularen, urbanen und dem religiösen, ländlichen Amerika wurde verschärft“. Ost- und Westküsten-Liberale aus New York, Boston oder San Francisco würden am liebsten eine Union mit Kanada bilden.

Doch selbst in ihren Stammterritorien konnte Bush wildern. Zwar wählten Afroamerikaner John Kerry noch mit satten 90 Prozent, unter Latinos konnte Bush jedoch Boden gut machen. Nur noch 56 Prozent der Hispanics stimmten für Kerry. „Es gibt viele Wähler, nicht nur im Süden und in der Mitte des Landes, die sich nicht länger von den Demokraten verstanden und vertreten fühlen“, sagt Ralph Reed, ehemals Chef der „Christian Coalition“ und Bush-Wahlkampfstratege. Und der demokratische Senator Christopher Dodd gestand: „Wir verlieren bei kulturellen Themen und sozialen Fragen an Einfluss.“

Die Bush-Getreuen sind nach Wähleranalysen überwiegend weiße Männer, wohlhabende Familien und treue Kirchgänger. Drei Viertel aller weißen, evangelischen Christen stimmten für den Präsidenten. Die Republikaner verknüpften die Wahl in elf Staaten geschickt mit Volksbefragungen zum Verbot der Homo-Ehe, vornehmlich im Süden und Mittleren Westen. Sie alle fanden überwältigende Mehrheiten.

Die „Moralfrage“ stand bei 30 bis 40 Prozent der Bush-Wähler selbst in den entscheidenden „Swing States“ wie Pennsylvania und Ohio ganz obenan, obwohl dort hunderttausende Arbeitsplätze verloren gingen und die Demokraten glaubten, mit Wirtschaftsthemen trumpfen zu können.

Überraschend mussten Europäer und Demokraten hierzulande einsehen, dass Amerika weitaus konservativer ist als bisher angenommen oder zugegeben. Studien, die gesellschaftliche Trends in den USA mit anderen Industrienationen vergleichen, haben jedoch seit langem darauf hingewiesen, wie wertkonservativ die USA in den vergangenen Jahrzehnten wieder geworden sind, stärker als alle europäischen, ja selbst asiatischen Nationen. Werte wie Familie, Tradition, Glaube und Patriotismus sind hier fester verankert als woanders.

Bushs Wahlsieg spiegelt diese Situation. Seine Mehrheit von 58,9 Millionen Stimmen gibt ihm überdies ein Mandat historischer Dimension: Es war die höchste Wahlbeteiligung seit 1968. Und noch nie in der US-Geschichte hat ein Präsident so viele Stimmen auf sich vereinigen können. Bislang hielt diesen Rekord Ronald Reagan bei seiner Wiederwahl 1984. Mehr noch: Die Republikaner jagten den Demokraten vier Sitze im Repräsentantenhaus ab und fünf Senatsposten, meist im religiösen und traditionsbewussten Süden. Symbolträchtig ist auch die Niederlage vom demokratischen Fraktionschef im Senat, Tom Daschle aus South Dakota. Seit 52 Jahren hat ein Oppositionsführer nicht verloren.

Kommentatoren sprechen bereits von einer zweiten „konservativen Revolution“, nachdem Newt Gingrich 1994 den Kongress für die Republikaner zurückeroberte, den sie mit einer kurzen Unterbrechung von wenigen Monaten seither nicht mehr hergaben. Vielleicht war Bill Clinton nur ein „Ausrutscher-Präsident“. Und auch er wurde nur gewählt, weil er ein komfortables Verhältnis zur Religion und den bibelfesten Südstaaten hatte.

Wenn Demokraten außerhalb ihrer „heidnischen“ Hochburgen wieder gewinnen wollen, raten Experten, müssen sie ein entspanntes und überzeugendes Verhältnis zum christlichen Glauben entwickeln. Nancy Pelosi, demokratische Fraktionschefin im Abgeordnetenhaus aus San Francisco, übte dies am Mittwoch bereits. Bei einer ihrer Auftritte nach der Niederlage zitierte sie eifrig die Bibel und das Matthäus-Evangelium. MICHAEL STRECK