piwik no script img

Mehdorn’sche Hitzewallungen

Wie würde der Bahnchef reagieren, wenn ihm beim Umsteigen der ICE vor der Nase weggefahren wäre? Vermutlich ähnlich, wie es viele Kunden am liebsten täten, wären sie nicht so gut erzogen. 10-Euro-Gutscheine dienen als Beruhigungsmittel

VON GÜNTER W. ERMLICH

Wenn Hartmut Mehdorn sich echauffiert“, hat unlängst die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) beobachtet, „wird daraus rasch ein Schauspiel der Motorik. Tänzelnd, boxend, parierend streckt er beschwörend die Hände nach vorn. Als werde er von Heerscharen von Feinden verfolgt, schimpft der Bahn-Chef drauflos, nie verlegen um eine kraftvolle Formulierung.“ Und Die Zeit findet, dass der Mann „mit seinem ruppigen Führungsstil, den persönlichen Beschimpfungen und verbalen Ausfällen nach allen Seiten schwer zu ertragen“ sei.

Was hätte Hartmut Mehdorn (HM) bloß statt unser gemacht, wenn ihm im Kölner Hauptbahnhof beim Umsteigen der vorgesehene Anschluss-ICE buchstäblich vor der Nase weggefahren wäre? „Scheiße!“, hätte er vermutlich gebrüllt. Oder „Was für ein elender Trötenverein!“ Oder „So kommen wir nie und nimmer an die Börse!“

Wäre HM nur verbal entgleist? Oder hätte er kurzerhand die Notbremse gezogen? Oder wäre er gar tänzelnd und boxend auf den nächstbesten Zugbegleiter losgegangen? Wir jedenfalls hätten dem obersten Pufferküsser – ausnahmsweise – mal zugejubelt. Denn wer mit der Deutschen Bahn verreist, der kann nicht nur viel erleben, sondern mutiert über kurz oder lang selbst zum HM-Männchen, zur Abziehfigur von Hartmut Mehdorn.

Was eigentlich ist geschehen? Wir zuckeln im ICE 29 durch das Ruhrgebiet in Richtung Köln. Irgendwo, bei Duisburg wohl, handelt sich der weiße Schienenblitz 5 Minuten Verspätung ein. Warum? Weil der „private Metropolitan Vorfahrt hat“, erklärt der nassforsche Zugbegleiter im Vorbeigehen. „Aber der Metropolitan ist doch eine hundertprozentige Bahntochter“, weiß die gebildete Dame von schräg gegenüber. Hm.

Eine Zitterpartie droht. Wir müssen nämlich in Köln umsteigen. Vom ICE 29 in den ICE 515, mit dem wir unsere Fahrt zum Frankfurter Flughafen fortsetzen. Das Flugzeug wartet nicht. Aber wird der ICE 515 in Köln auf uns warten? Immer häufiger geht der Blick zur Uhr. Düsseldorf liegt schon hinter uns.

„In Köln werden alle Verbindungen erreicht“, tönt der Zugchef durch das Mikrofon. Seine sonore Stimme weckt Vertrauen. Leverkusen Mitte, Köln-Mülheim, Köln-Deutz ziehen vorbei. Wir überqueren, den gezackten Dom im Blick, die Hohenzollernbrücke über den Rhein. Rollen sanft in die imposante Bahnsteighalle ein.

Gleis 7. Es ist 9.54 Uhr. Wir haben 5 Minuten Verspätung. Und um 9.54 Uhr soll der ICE 515 laut Fahrplan gegenüber von Gleis 6 am gleichen Bahnsteig abfahren. Den Koffer bei Fuß, sind wir umzugsfertig, bereit zum Kurzsprint über den Bahnsteig. Noch wenige Meter bis zum Stillstand, noch ein paar Sekunden bis zum Ausstieg. Dann passiert vor unseren Augen das Unfassbare. Der ICE gegenüber, unser ICE! in spe, summt im Zeitlupentempo los. Stehen bleiben!, wollen wir ihm noch zurufen. Zu spät. Wir sind bis ins Mark erschüttert. Das Flugzeug wird nicht warten. Wir erinnern uns an den FAS-Artikel und machen den Mehdorn: tänzelnd, boxend, schimpfend. Und Mitte Dezember will die Bahn im Fernverkehr schon wieder die Preise um 3,1 Prozent erhöhen? Für welche Gegenleistung? Dass der ICE uns vor der Nase wegfährt?

5 Minuten Verspätung, lehrt die bittere Erfahrung, sind 5 Minuten zu viel. Notgedrungen müssen wir also im ICE 29 bleiben. Zwar fährt auch er zum Frankfurter Flughafen, kommt aber geschlagene 70 Minuten später an, weil er das ganze verschlungen-romantische Rheintal abklappert – Bonn, Koblenz, Mainz. Dagegen saust der andere ICE auf der neuen Schnellstrecke mit 300 Sachen durch die Tunnelröhren.

Wohin mit unserem Anschluss-verpasst-Frust? Das Zugpersonal ist der Prellbock für den Kundenärger. In Köln hat das Zugpersonal gewechselt. In der Dienstkabine sitzt der neue Zugchef, der den ICE-Vorfall vom Bahnsteig aus mitbekommen hat, und telefoniert. Von der Transportleitung in Duisburg will er wissen, warum der ICE 29 losfährt, ohne auf ICE 515 zu warten. Ein Zugbegleiter, der im Türrahmen der Dienstkabine steht, erklärt: „Das passiert hier in Köln öfters.“ Er signalisiert Verständnis für unseren Verdruss und zückt prompt eine Visitenkarte des „Team Bordservice“. „Sie können sich beim Kundendialog unter dieser Telefonnummer beschweren.“ Sagt es und äußert einen schlimmen Verdacht: Die Beschwerde könnte gar nicht „bis nach oben“ vordringen, würde bereits vorher aus dem Verkehr gezogen.

Die Transportleitung lässt sich telefonisch partout nicht erreichen. Der Zugchef raucht und murmelt zwischen zwei Zügen: „Da wäre doch genug Spielraum gewesen. Der ICE kann auf der Schnellstrecke zwischen Köln und Frankfurt locker 8, 9 Minuten Verspätung gutmachen.“ Also hätte er bequem auf unseren ICE warten können? Der Zugchef nickt zustimmend.

In Frankfurt haben wir unseren Flieger auf den letzten Drücker bekommen. Zwei Wochen später – der erste Unmut ist verflogen – Anruf beim „Kundendialog Personenverkehr“ der DB. Die Dame nimmt die Beschwerde routiniert zu Protokoll. Mit warmen Worten – „Ich kann Sie sehr gut verstehen!“ – tröstet sie uns und verspricht einen Reisegutschein über 10 Euro, der auch postwendend eintrifft. Akte geschlossen.

Eine Frage bleibt allerdings offen: Wie hätte eigentlich das HM-Männchen auf den ICE-Vorfall reagiert? Nein, nicht als bevorzugter Bahnchef, sondern als gemeiner Kunde? Wäre er in die Luft gegangen oder auf die Palme? Sein Dienstherr, Verkehrsminister Stolpe, kennt seinen kleinen Pappenheimer: „Für den diplomatischen Dienst“, sagt Stolpe, würde er Mehdorn nicht vorschlagen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen