Tag der Teilnahmslosigkeit

Der 3. Oktober bleibt als Tag der Deutschen Einheit gesetzlicher Feiertag. Egal, denn wo der Revolution grundsätzlich die Legitimation abgesprochen wird, funktionieren Nationalfeiertage nicht

Alles war so schön an jenem Abend des 3. Oktober 1990. Keine der Befürchtungen, die Kritiker eines angeblich neu heraufziehenden deutschen Nationalismus geäußert hatten, bewahrheitete sich damals. Die Feier am Brandenburger Tor kam gänzlich ohne nationale Inbrunst aus. Statt Paraden eine lockere, unorganisierte Volksmenge, statt offiziösem Pathos gemeinsame Freude, untermischt mit Nachdenklichkeit. Ein Fest, bei dem die Teilnehmer noch wussten, dass die deutsche Einheit zwar durch Gorbatschow ermöglicht, aber von einer demokratischen Revolution angestoßen worden war. Warum aus diesem Datum keinen Nationalfeiertag machen?

Aber der gute Start erwies sich doch als Fehlstart. Die demokratische Revolution hatte eben nur in einem Teil Deutschlands stattgefunden, der andere, größere blieb davon unberührt. Kein Impuls sprang von ihr auf den Westen über, kein Infragestellen des eigenen Status und der eigenen Befindlichkeit, kein Bedürfnis nach einem gemeinsamen Neuanfang. Exemplarisch zeigte sich das in der Niederlage des Versuchs, eine neue, gemeinsame deutsche Verfassung auszuarbeiten. Solch eine Verfassung, beschlossen auf gleicher Augenhöhe von beiden deutschen Parlamenten und vom Volk ratifiziert, hätte Gelegenheit gegeben, einen erinnerungswerten Nationalfeiertag einzurichten. Ein Versprechen einzulösen, dass der Verfassungstag der Weimarer Republik, Resultat einer bedauerlicherweise stecken gebliebenen Revolution, nie hatte erfüllen können.

Weil der revolutionär-demokratische Impetus in Deutschland keinen Widerhall fand, wurde der 3. Oktober als Nationalfeiertag rasch zum Tag apathischer Teilnahmslosigkeit. Insofern traf die Initiative des Finanzministers, den Feiertag auf den arbeitsfreien Sonntag zu verlegen, zwar auf geballten Widerstand der Freizeitwahrer, aber nur auf matten Protest der politischen Sinnstifter. Statt der Erinnerung an die „großen Tage“ vom Oktober 1989, statt der Feier einer gemeinsamen, schließlich erfolgreichen Kraftanstrengung sehen wir nur Missvergnügen allerorten hinsichtlich der Resultate der Vereinigung. Und den gar nicht so klammheimlich auf beiden Seiten der Mauer am 3. Oktober geäußerte Wunsch, das Bauwerk möchte doch wiedererstehen.

Am 14. Juli feiert sich abends auf den Straßen von Paris das Volk selbst. Mag die historische Kritik noch so überzeugend nachweisen, dass der Sturm auf die Bastille ein absolutes Nicht-Ereignis gewesen war, über 200 Jahre später sehen sich die Franzosen als Nachfolger einer gemeinsamen geschichtlichen Aktion, sie fühlen sich als Subjekt der Geschichte. Wie auch die Amerikaner, wenn sie am 4. Juli den Unabhängigkeitstag feiern, sich in der Nachfolge der Versammlung von Bürgern der „Neuen Welt“ sehen, die 1776 die Unabhängigkeitserklärung verabschiedete und damit die „Constitutio libertatis“ begründete.

Nationalfeiertage funktionieren nur dort, wo sich die Gründung einer Nation der revolutionären Massenbewegung verdankt. Nur so können sie ihre symbolische Wirkung bewahren, diesen Augenblick zurückrufen, wo die Revolutionäre auf die Kirchturmuhren schossen, um die Zeit anzuhalten. Wo aber die Erinnerung an Widerstand gegen autokratische Regime nicht als Geburtshelfer der Demokratie gesehen wird, wo der Revolution grundsätzlich die Legitimation abgesprochen wird, tut man sich in Demokratien schwer mit Nationalfeiertagen.

Wechseln wir vom deutschen auf das Terrain Russlands. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Feiertag der Oktoberrevolution am 7. November umgedeutet in den „Tag der Eintracht und Versöhnung“. Was aber soll mit wem versöhnt werden? Die Anhänger des Realsozialismus, die der Sowjetunion nachtrauern, mit den Demokraten, die vergeblich für ein republikanisches Russland eintreten? Und wie steht es mit dem Feiertag der Unabhängigkeit Russlands am 12. Juni, jetzt zum Russland-Tag umbenannt? Kann zur gleichen Zeit der Zerfall eines Weltimperiums und die Geburtsstunde der russischen Föderation gefeiert werden, möglichst noch mit gespaltenem Bewusstsein? Feiertage wie der des 9. Mai, wo des Sieges über den Faschismus gedacht wird, mögen als Bindemittel des nationalen Stolzes dienen, können „russische Identität“ befördern. Aber sie können nicht jenes Selbstbewusstsein und jene Zuversicht wachrufen, die der Erinnerung an den revolutionären Freiheitskampf eignet.

Wir sind also nicht allein mit unserem Dilemma, wenigstens können die Russen aber besser mit ihm umgehen. Erstens, sie experimentieren. Nun soll sogar der Tag, an dem 1612 die polnische Garnison aus Moskau verjagt wurde, zum Nationalfeiertag erklärt werden. Eine Geste an die russisch-orthodoxe Kirche, denn an jenem 22. Oktober 1612 wurde den russischen Aufständischen eine wundertätige Ikone vorangetragen. Zweitens, sie zeigen sich großzügiger, was das Feiern anlangt. Folgende Regelung gilt: „Soll ein Feiertag auf einen Dienstag fallen, so wird üblicherweise der Montag ebenfalls zu einem Feiertag erklärt. In diesem Fall wird allerdings an dem vorhergehenden Samstag gearbeitet. Sollte der Feiertag auf einen Sonntag fallen, so wird oftmals der vorhergehende Freitag zu einem Feiertag erklärt.“

Da in Deutschland die Zeit gegenwärtig Experimenten nicht gewogen ist, könnte wenigstens die russische Großzügigkeit als Vorbild dienen.

CHRISTIAN SEMLER