Einebnung der Geschichte

„Ohne Aufstand hätte es keine Überlebenden gegeben“: Jules Schelvis, Überlebender von Sobibór, liest heute Abend in der Buchhandlung im Schanzenviertel aus seinem Buch über das Lager

von Andreas Speit

Unzählige Laubbäume und zahllose Büsche wachsen auf dem sumpfigen Boden. Vor allem Kiefern lassen das ehemaligen Gelände des Vernichtungslagers „Sobibór“ verschwinden. Nach der Einebnung des Vernichtungslagers im heutigen Osten Polens, befahl der Leiter der „Aktion Reinhardt“ Odilo Globocnik die Anpflanzung des Waldes. Die Bäume sollten die Toten und die Mörder vergessen machen. Alle Spuren der „geheimen Reichssache“ wollten die Täter verwischen.

Die Leichen der Ermordeten ließ die SS von Häftlingen verbrennen, die Akten verschwinden und die „Aufräumhäftlinge“ erschießen. Viele Jahrzehnte blieben denn auch die über 1.750.000 Menschen die in den Lagern der „Aktion Reinhardt“ Belcez, Treblinka und Sobibór vergast wurden, kaum erinnert. „Ohne den Aufstand in Sobibór hätte es keine Überlebenden gegeben, die den dortigen Massenmord bezeugen könnten“, betont Jules Schelvis.

Anlässlich des 60. Jahrestags des geglückten Häftlingsaufstands veröffentlicht Schelvis, der Sobibór und weitere Lager überlebte, eine überarbeitete Neuauflage seines Buches über das Vernichtungslager. „Der Drang genau in Erfahrung zu bringen, wie es meiner Familie ergangen ist, die ich in Sobibór zurücklassen mußte, entwickelte sich erst nach meiner Pensionierung“, erzählt Schelvis, der auch als Nebenkläger in einem der Sobibór-Prozesse auftrat. Die Akten des Verfahrens, Zeugenaussagen der Täter und Erinnerungen der wenigen Überlebenden verarbeitet Schelvis mit seinen Erinnerungen in dem Buch, das erstmals 1993 in den Niederlanden erschien und seitdem als Standardwerk gilt.

Am 26. Mai 1943 wurde Schelvis mit seiner Frau Rachel aus ihrer Wohnung in Amsterdam ins Lager Westerbork deportiert. Alleine 19 Transporte aus der niederländischen Stadt brachten über 34.313 Menschen in das polnische Vernichtungslager. In den fünfzehn Monaten des bestehen des Lagers (vom Mai 1942 bis Oktober 1943) ermordeten das SS-Sonderkommando mehr als 250.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer. Gleich nach der Ankunft führten die „Beamten des Todes“, die teilweise schon in den Euthanasieanstalten mordeten, ihre Opfer in die Gaskammern.

Als die Schelvis am 4. Juni 1943 an der Rampe des Bahnhofs eintrafen schien die Sonne, erinnert sich Schelvis. „Der Zug war kaum zum Stehen gekommen als wir unter Peitschenschlägen weitergetrieben wurden“, berichtet er, der sogleich für ein Arbeitskommando selektiert wurde. Seine Frau und seine gesamten Verwandten tötete die SS in nicht mehr als zwei Stunden.

Die etwa 1.000 Häftlinge aus ganz Europa, die die SS zur Aufrechterhaltung des Lagers nicht gleich ermordete, ahnten, das sie als Zeugen des Massenmordes selbst getötet werden würden. Ein Aufstand wurde von einen kleiner Häftlingsgruppe geplant. Auch in der Annahme, dass der „Aufstand nicht gelinge könnte“. Aber „ihr Wunsch war, wie Helden zu sterben“. Am 14. Oktober 1943 gelang es ihnen aber, Teile der Lagerleitung heimlich zu töten. Als der Aufstand offen ausbrach konnten über 300 Häftlinge aus dem Lager fliehen. Über 50 Häftlinge erlebten das Kriegsende.

„Der Aufstand ist ein Beispiel für erfolgreichen jüdischen Widerstand“, betont Schelvis. Nur durch die Aussagen der Überlebenden konnten auch die Verfahren gegen die Täter eingeleitet werden. „Eine unzureichende juristische Verfolgung“, hebt Schelvis aber hervor. 1976 beispielsweise endete ein Verfahren vor dem Hamburger Landgericht gegen sechs Wachangehörige mit Freispruch. Die jüngst erschienene Neuauflage des vergriffenen Buches, das nicht nur über Sobibór informiert, ist aus der Perspektive des historischen Zeitzeugen geschrieben. „Für uns“, betont Schelvis „die Überlebenden, eine fast nicht zu bewältigende Aufgabe.“

Nach einführenden Worten von der Hamburger Politologin Dr. Claudia Lenz berichtet Schelvis heute Abend über die Geschichte des Vernichtungslagers.

heute, 20 Uhr, Buchhandlung im Schanzenviertel. Jules Schelvis: Vernichtungslager Sobibór. Rat/Unrast Verlag, 2003, 364 Seiten, 20 Euro