In der Stadt wächst nun die Angst

Nach dem Terroranschlag auf zwei Synagogen am letzten Samstag fühlten sich die Istanbuler nicht direkt bedroht, das hat sich seit gestern geändert

Das Handynetz brach zusammen, was die Panik in den Straßen noch verstärkte

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

Über dem Bankenviertel am Bosporus stieg eine riesige Rauchsäule in die Höhe, Explosionen waren kilometerweit zu höhren. Blitzschnell verbreiteten sich kurz vor 11 Uhr die wildesten Gerüchte in der Stadt. Terroristen hätten wieder an mindestens fünf Stellen gleichzeitig zugeschlagen. Es gäbe hunderte Tote. Die Menschen schauten sich entsetzt an, rannten in Richtung des nächsten Fernsehgerätes und versuchten per Handy ihre Angehörigen und Freunde zu erreichen. Der massenhafte Ansturm führte dazu, dass das Handynetz zunächst zusammenbrach, was die Panik auf den Straßen noch verstärkte.

Jeder hatte etwas anderes gehört. Ein Mann wollte einen Anschlag in Bostanci, einem Zentrum auf der asiatischen Seite der Stadt, gesehen haben, einige sprachen vom Taksim, dem Hauptplatz auf der europäischen Seite Istanbuls. Die Menschen standen in Gruppen zusammen, schüttelten die Köpfe – Verstörung, Ratlosigkeit und Angst gingen um. Auch die Fernsehanstalten brachten zunächst keine konkreten Informationen. Nachdem sich die Nachricht über fünf Anschläge als Gerücht erwiesen hatte, hielt sich hartnäckig die Falschmeldung, außer dem Attentat auf das britische Konsulat und auf eine Bank sei auch in einem Wohnviertel eine Bombe hochgegangen.

Erst gut eine Stunde später gab Regierungssprecher Cicek eine erste offizielle Stellungnahme ab: Es wären zwei verheerende Bombenanschläge gewesen, der erste auf die Niederlassung der britischen HSBC-Bank im Stadtteil Levent, der zweite, Minuten später, auf das britische Konsulat in Beyoglu. Cicek sprach zunächst von fünf Toten und mehr als hundert Verletzten, sagte aber auch gleich, dass es etliche Vermisste gebe. Während der Regierungssprecher noch auf Sendung war, blendeten die TV-Sender bereits eine Opferzahl von acht oder neun ein. Am Nachmittag stieg die Zahl der Toten dann auf 26, die der Verletzten auf fast 450.

Die Ziele beider Attentate waren ganz offensichtlich britische Einrichtungen. Ihr Ablauf ist mit den Anschlägen auf zwei Synagogen fünf Tage zuvor fast identisch. Wieder waren es zwei Lieferwagen, die voll beladen mit Sprengstoff als bewegliche Bomben benutzt wurden. Wieder muss es sich um riesige Mengen Sprengstoff gehandelt haben, denn die Detonationen waren gewaltig. Wieder waren es Selbstmordattentäter. Ein Augenzeuge vor dem britischen Konsulat berichtete, dass der Lieferwagen frontal auf die Gartenmauer des Konsulats zugefahren sei.

Die britische Vertretung liegt an einer verwinkelten Gasse mitten in der Altstadt Istanbuls, nur wenige Meter entfernt von der belebtesten Fußgängerzone der Stadt. Das Gebäude war von einer hohen Mauer umgeben, die von der Wucht der Bombe völlig zerstört wurde. Mehrere Angestellte des Konsulats wurden getötet, auch der britische Generalkonsul Roger Short gehört zu den Opfern. Hunderte von Metern rund um das Konsulat stehen von den Gebäuden oft nur noch die Fassaden, viele wurden völlig zerstört. In den Straßen liegen blutüberströmte Menschen, Leichenteile sind mit Zeitungen zugedeckt.

Bis vor wenigen Monaten befand sich das US-Konsulat nur wenige hundert Meter vom britischen Konsulat entfernt. Erst vor kurzem waren die Amerikaner von der Altstadt in eine neu erbaute Festung über dem Bosporus gezogen. Möglich, dass die Briten nun als das leichter erreichbare Opfer angegriffen wurden.

Die Umgebung der HSBC-Bank in Levent unterscheidet sich vollständig von der des Konsulats. Vor der Bank verläuft eine breite Autostraße, in unmittelbarer Nähe befindet sich eine gerade neu errichtete Shopping-Mall, die Endstation der U-Bahn ist gerade hundert Meter entfernt. Wenn die Attentäter ihre Bombe zwei Stunden früher, mitten in der morgendlichen Rush-Hour, gezündet hätten, wäre die Zahl der Todesopfer viel höher gewesen. Das Hochhaus der HSBC-Bank, der größten ausländischen Bank in der Türkei, ist stehen geblieben, gleicht aber einem Skelett.

Drei Stunden nach dem Anschlag meldete sich ein anonymer Anrufer und bezeichnete die Terroranschläge als Aktionen von al-Quaida und IBDA/C, den gleichen Gruppen also, die auch für die Anschläge auf die beiden Synagogen am Samstag die Verantwortung übernommen hatten. Schon vor dem Bekenneranruf hatte Innenminister Aksu darauf hingewiesen, dass die Art und Weise der Anschläge darauf schließen lasse, dass es sich um ähnliche Täter handelt.

IBDA/C ist eine islamistische Splittergruppe, die bis Mitte der 90er-Jahre durch kleinere Anschläge auf westlich orientierte Intellektuelle bekannt wurde. Nachdem 1997 der Kopf der Gruppe zusammen mit etlichen Anhängern verhaftet worden war, galt die Organisation als zerschlagen.

Die Terrorattentate auf die Synagogen hatten in der Stadt eine tiefe Bestürzung ausgelöst, aber die meisten Istanbuler fühlten sich nicht unmittelbar bedroht. Jetzt wächst die Angst. Zwar behauptete Außenminister Gül in einem ersten Statement, man werde vor dem Terror nicht zurückweichen, doch die Menschen fühlen sich nicht mehr sicher. „Wo geht die nächste Bombe hoch, wen wird es das nächste Mal treffen?“, so lauten die Fragen. In der Stadt mit ihren rund 10 Millionen Einwohnern gibt es eine Vielzahl von Anschlagszielen, die vor Attentätern, denen weder ihr eigenes Leben noch das aller anderen Menschen irgendetwas bedeutet, unmöglich zu schützen sind.