Renaissance des liberalen Judentums

Die Jüdische Liberale Vereinigung fördert ein progressives Judentum. Den Neubau der Gelsenkirchener Synagoge sieht man kritisch. Vor allem die untergeordnete Rolle der Frau stößt bei den Progressiven auf Widerspruch

RUHR taz ■ Die heutige Grundsteinlegung für die neue Synagoge in Gelsenkirchen ist ein Symbol für die Renaissance des jüdischen Glaubens im Ruhrgebiet. Doch es sind vor allem Anhänger der orthodox-konservativen Glaubensrichtung, die das Bild vom Judentum prägen, während liberale Gläubige in Nordrhein-Westfalen wie im gesamten Bundesgebiet in der Minderheit sind.

Die „Jüdische Liberale Vereinigung Etz Ami“ will den liberalen Juden im Ruhrgebiet ein Forum bieten und ihnen die Möglichkeit geben, liberale Gottesdienste zu besuchen. Seit vier Jahren treffen sich die rund 30 Mitglieder, überwiegend Studenten, aber auch einige ältere Gläubige, einmal monatlich in der zweihundert Jahre alten Synagoge in Selm-Bork. Gegründet wurde die Vereinigung von Chajm Guski, der selbst Mitglied der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchens ist und dort auch regelmäßig Gottesdienste besucht, sich mit der dort praktizierten Orthodoxie jedoch nicht hundertprozentig identifiziert. Dennoch stellt er klar: „Wir wollen uns nicht abkapseln.“ Etz Ami sei keine unabhängige Gemeinde, sondern alle Mitglieder seien auch weiterhin Mitglieder im Landesverband der Jüdischen Gemeinden.

Die neue Gelsenkirchener Synagoge, die aus einer gemeinsamen Initiative der jüdischen Gemeinde, der Stadt Gelsenkirchen sowie dem Land NRW hervorgegangen ist, und als ein Prestigeobjekt der Stadt gilt, beurteilt man bei Etz Ami jedoch nicht uneingeschränkt positiv. Das Gotteshaus werde nicht dazu beitragen, die Widersprüche und unterschiedlichen Auffassungen, die zwischen den Anhängern der verschiedenen Glaubensrichtungen existieren, zusammen zu bringen. Chajm Guski kritisiert, dass Frauen in der neuen Synagoge marginalisiert und an den Rand gedrängt würden: „Die Frauen sitzen wieder ganz hinten in der Synagoge, ihre aktive Teilnahme am Gottesdienst ist damit nicht möglich.“ Bei liberalen Gottesdiensten sind Frauen den männlichen Gottesdienstbesuchern jedoch gleichgestellt. Sie sitzen neben den Männern, dürfen vorbeten und aus der Tora lesen.

Guski räumt jedoch ein, dass die Gelsenkirchener Gemeinde damit einem Glaubensverständnis folgt, das auch in vielen anderen jüdischen Gemeinden in Deutschland gilt, die heute, anders als vor dem Holocaust, mehrheitlich orthodox geprägt sind. Mit dem Neubau sei jedoch die Chance vertan worden, sich zu einem progressiveren Glaubensverständnis zu bekennen und Frauen durch das „egalitäre Gebet“ aktiv an den Gottesdiensten zu beteiligen. Für den Etz Ami-Gründer stellt dies einen Bruch mit der liberalen Tradition der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchens dar: „Die Gemeinde war bis 1938 liberal geprägt.“ Auf Konfrontationskurs mit den anderen Gemeindemitgliedern möchte er dennoch nicht gehen. „Es wäre nur wünschenswert gewesen, wenn das Projekt der neuen Synagoge innerhalb der Gemeinde eingehender diskutiert worden wäre“, so Guski.

Dass der Neubau der Synagoge automatisch eine Belebung des jüdischen Lebens im Ruhrgebiet bedeutet, glaubt er nicht: „Die neue Synagoge ist vor allem ein Prestigeprojekt der Stadt.“ULLA JASPER