Wendländisches Tagebuch (7): 8.11.2004
: Alles in Aufruhr

Das Wendland trauert um den toten Jungen. Auch Familie Zitterbart aus Gedelitz ist fassungslos – aber protestiert weiter, berichtet Uwe Zitterbart

Ich habe die Nachricht vom Tod des französischen Jungen per SMS bekommen. Ich fuhr mit dem Auto durch eine kleine Straße in Hitzacker, in der standen 120 Polizeiautos. Die Polizisten legten gerade ihre Rüstungen an. Es war ein grausiges Bild, angesichts des Todes noch grausiger als sonst. Da schwankt man zwischen Wut und Trauer.

Meine Frau ist am Abend zu einem spontanen Gottesdienst nach Langendorf gegangen. Die Kirche war randvoll, aber der Gottesdienst ging nur fünf Minuten, dann kam jemand rein und sagte, die Polizisten wollten die Trecker vor der Kirche räumen. Viele sind rausgestürmt und waren aufgebracht. Später hat sich herausgestellt, dass es nur ein Schichtwechsel der Polizei war. Die neue Schicht hat ihre Montur angelegt, sie wollten nichts räumen. Alles ist in Aufruhr.

Heute Vormittag gab es viele Diskussionen, ob wir mit den Protesten weitermachen sollen. Von dem kulturellen Programm ist das meiste abgesagt, wir haben jetzt ohnehin keine Freude daran. Aber wir haben entschieden, weiterzuprotestieren. Jetzt sitze ich zusammen mit meiner Frau und den beiden Kindern in Langendorf in einer Straßenblockade. Wir blockieren eine der beiden Routen, die die Schwertransporter mit den Castoren nach Gorleben nehmen könnten. Wir sind etwa 300 Leute und absolute Unmengen an Polizei – die haben ihre Kräfte nochmal aufgestockt. Momentan ist alles ganz idyllisch, wir haben Heuballen aufgeschnitten, haben Lagerfeuer gemacht und singen. Die Trauer verdrängen wir, denn es gibt dauernd neue Nachrichten, wo der Castor gerade ist. An der Zugstrecke haben sie Tränengas eingesetzt, eine 16-Jährige ist von der Polizei mit vorgehaltener Waffe bedroht worden – wir können es nicht fassen.

Dass in den letzten Jahren noch niemand bei den Protesten gestorben ist, war nur ganz großes Glück. Ich habe zum Beispiel erlebt, dass eine Polizeireiterstaffel einfach in sitzende und liegende Menschen reingeritten ist. Das gilt unter anderen Umständen als Mordversuch.

Gerade ist der Castor in Dannenberg angekommen, dort wird er auf die Straße umgeladen. Ich denke, dass die Transporter nicht mehr heute im Dunkeln losfahren, sondern erst morgen früh. Meine Frau fährt zwischendurch nach Hause und bringt die Kinder ins Bett. Die müssen hier raus, bevor es kritisch wird. Wann es losgeht, kann niemand sagen. Ich werde bis morgen bleiben.

Protokoll: Dorothea Siegle